Anregungen zur Heiligung in der Nachfolge Christi
Beim Erwachen, das der von allen Menschen erwarteten Auferstehung aus den Toten gleicht, richte die Gedanken auf Gott, bringe Ihm das Lobopfer deines Sinnes, bevor dieser sich eitlen Eindrücken überlässt. Still und gesammelt halte dich an die häusliche Gebetsregel, nachdem die morgendliche Hygiene den Bedürfnissen nach dem Schlaf Genüge getan hat; es kommt nicht so sehr auf die Menge der Gebete, sondern auf ihre Qualität an, d.h. auf die Konzentration des Geistes, damit das Herz durch innere Rührung und Trost geheiligt und erquickt wird. Nach dem Beten lies unter Sammlung aller Kräfte im Neuen Testament, d.h. vorzugsweise im Evangelium. Achte dabei sorgsam auf alle Mahnungen und Gebote Christi, um sodann deiner Tätigkeit nachzugehen, der sichtbaren wie der unsichtbaren. Das Maß der Lektüre bestimmen die Kraft des Menschen und die Umstände. Der Geist soll nicht durch überzogenes Beten und Lesen in der Schrift belastet noch sollen die eigenen Pflichten durch übertriebene Gebets- und Leseexerzitien versäumt werden. Wie übermäßige Nahrungsaufnahme den Magen schwächt und verstimmt, so führt auch ein Zuviel an geistlicher Nahrung zur Schwächung des Geistes, erzeugt in ihm Abkehr von den frommen Übungen und gibt den Depressionen freien Lauf.
Dem Anfänger raten die heiligen Väter zu häufigen Kurzgebeten. Wenn dann der Sinn durch geistliches Wachstum erstarkt und gefestigt wird, gerät er in den Zustand fortgesetzten Betens. Auf Christen, die das volle Mannesalter im Herrn erreicht haben, beziehen sich die Worte des heiligen Apostels Paulus: „So will ich nun, dass die Männer beten an allen Orten und heilige Hände aufheben ohne Zorn und Zweifel” (1 Tim 2,8), also ohne von Leidenschaften getrieben und durch Zerstreuung und Unsicherheit abgelenkt zu werden. Was dem Manne taugt, mag für das kleine I<ind noch lange nicht tauglich sein. Erleuchtet von Gebet und Lesung durch die Sonne der Gerechtigkeit, unseren Herrn Jesus Christus, soll der Mensch zu seinem Tagwerk aufbrechen, wohl wissend, dass in allen Werken und Worten, in all seinem Wesen der allheilige Wille Gottes wirkt und herrscht. In den Geboten des Evangeliums ist er den Menschen kund getan und erklärt.
Freie Minuten im Laufe des Tages nutze zum aufmerksamen Lesen ausgewählter Gebete oder bestimmter Stellen der Schrift, damit so die durch das Wirken in dieser eitlen Welt aufgesaugten Kräfte der Seele wieder gestärkt werden. Wenn es aber nicht zu solchen goldenen Minuten kommt, sollte man darüber wie über einen verlorenen Schatz trauern. Was heute verloren ging, muss am folgenden Tag nicht verloren bleiben; da unser Herz sich sonst allzu leicht der Fahrlässigkeit und Vergesslichkeit ergibt, aus denen finstere Unwissenheit hervorgeht, die sich so verhängnisvoll am Werke Gottes und an unserem Heil erweist.
Sollte es vorkommen, dass du wider die Gebote Gottes gesprochen oder gehandelt hast, dann heile alsbald die Übertretung durch Buße und kehre durch aufrichtige Reue auf den Weg Gottes zurück, von dem du durch den Verstoss gegen Seinen Willen abgewichen bist. Bleibe nicht außerhalb des göttlichen Weges! Kommenden sündhaften Gedanken, Träumen und Empfindungen stelle in demütigem Glauben die Weisungen des Evangeliums entgegen, indem du mit dem hl. Patriarchen Josef sagst: „Sollte ich ein so großes Unrecht tun und wider Gott sündigen?!”
Wer Acht hat auf sich, muss von jeder Schwärmerei Abstand nehmen, wie verlockend und edel sie auch sein mag. Jede Schwärmerei ist Verirrung des Geistes außerhalb der Wahrheit im Lande der unwirklichen Schatten, die nicht Realität werden können, wohl aber den Sinn betören und ihn immer wieder betrügen wollen. Die Folgen der Schwärmerei gipfeln im Verlust der Selbstkontrolle, in der Zerstreuung des Sinnes und Verhärtung des Herzens beim Gebet. Daraus erwächst schließlich seelische Verirrung und Verderben.
Wohin schweifen alle Sinne und Empfindungen des schlafenden Menschen? Was ist das für ein geheimnisvoller Zustand, der Schlaf, bei dem Seele und Leib lebendig sind und doch nicht zusammen leben, sondern fremd dem eigenen Bewusstsein bleiben, als wären sie tot? Der Schlaf ist ebenso wenig zu begreifen wie der Tod. Die Seele kommt zur Ruhe und vergisst alle grimmigen Bitternisse und irdischen Nöte, wird zum Abbild ihrer ewigen Ruhe. Und dann der Körper! Wenn er vom Schlaf erwacht, wird er einst aus den Toten heraus auferstehen. Wie sagte doch der große Agapon:
„Ohne intensives Achthaben auf sich selbst, wird man nicht in den Tugenden vorankommen.”
Hl. Bischof Ignatij (Brjancaninov)