in der säkularen Gesellschaft.
Mithin ist der Begriff der Anbetung weiter als nur religiöse Gottesverehrung zu fassen. Er beginnt, wenn wir jenseits der eigenen Grenzen Werte entdecken, die größer als wir und wichtiger für uns als wir selbst sind. Das menschliche Leben bleibt dann zurück hinter dem, wofür ein Mensch zu leben und zu sterben bereit ist. Die Bereitschaft dazu wurzelt in dieser Grundhaltung, unabhängig davon, was als höchster Wert anerkannt oder bekannt wird.
Für uns Gläubige ist das Gott. Ihn kennen wir, beten wir an. Ihn lieben und verehren wir, und ihm wollen wir gehorchen.
Dabei gilt festzuhalten, dass Andacht und ehrfürchtiger Dienst in dem Augenblick beginnen, sobald wir einer Sache oder einem Menschen den höchsten Wert zuordnen. Dies bringt uns, ohne dass wir dessen immer bewusst sind, in die Nähe von Menschen, die sich grundsätzlich von uns unterscheiden, deren Ideale nicht mit den unseren übereinstimmen, die möglicherweise alles ablehnen, wofür wir einstehen und die dennoch, in Ehrerbietung und Ehrfurcht leben, ihr Leben bis hin zum Tod zum Opfer bringen für etwas, was sie hoch schätzen und ihnen kostbarer ist als ihre eigene Existenz.
Das Zweite, was es zu bedenken gilt, ist, wie teuer und sinnvoll uns auch die klassischen und traditionellen Formen der Gottesverehrung bleiben, sie sind nicht die einzigen, die die Kirche zu vermitteln versucht, und in denen sie ihr Wissen, ihre Gotteserfahrung und ihre Fähigkeit ausdrückt, Erfahrung und Wissen und damit auch die Gefühle, Bewusstseins- und Seelenhaltungen weiterzugeben, um Gotteserkenntnis zu wecken. Von Generation zu Generation können völlig legitim neue Wege, voll überraschender Neuigkeiten und doch so echt wie die früheren erschlossen werden.
Wir leben jetzt in einer säkularen Gesellschaft. In sie sind wir eingegliedert, obwohl wir „nicht von dieser Welt sind”. Doch sollten wir hier mit diesem Unterschied recht behutsam umgehen und nicht naiverweise behaupten, dass, obzwar wir in der Welt leben, wir überhaupt nichts mit ihr gemein haben.
In Wirklichkeit umgibt uns nicht nur die Welt, sie ist auch in hohem Grade uns. Wir gehören nicht vorbehaltlos und in vollkommenem Maße dem Reich Gottes mitten in der uns fremden Welt an. Beide Glieder dieser Gegenüberstellung korrespondieren anderweitig. Wir sind in einem Werdeprozess und haben das Ziel noch nicht erreicht; die uns umgebende Welt ist nicht nur jene „äußerste Finsternis”, von der wir im Evangelium hören. Auch sie ist ein vielschichtiges, außerordentlich reiches Umfeld, wo Gott wirkt und das häufig empfindsamer und empfänglicher für geistige Werte ist als wir in der Verblendung durch Gewohnheit und ererbte Vergangenheit. Nichtsdestoweniger gibt es, wie mir scheint, zwei charakteristische Merkmale, an denen man die säkulare Gesellschaft, in der wir leben, und unsere eigene Verweltlichung heute definieren kann.
Das erste Merkmal ist der Verlust der Gottesempfindung. Dieser Verlust des Gespürs für Gott definiert, wenn es total und radikal ist, die säkulare Gesellschaft; ich würde sagen, „die ideale” säkulare Gesellschaft, weil sie, wie wir sie sehen und erleben, die Gottesempfindung nicht radikal verloren hat – eine derartige Gesellschaft wäre der Kirche völlig fremd. Wenn wir uns nach innen wenden und über uns selbst urteilen, erkennen wir mit tragischer Klarheit (denn dieses Gericht ist für uns schon der Anfang des Jüngsten Gerichts), dass wir dieser weltlichen, säkularen Gesellschaft in hohem Maße gehören: Ist doch auch in uns das Gefühl für Gott verdunkelt, schwach und matt. Wir können nicht sagen, in uns herrsche das Empfinden für den lebendigen Gott vor, wie etwa in den Helden des Alten und Neuen Testamentes, den Heiligen der Kirche oder in den großen Geistesträgern.
Der zweite für die säkulare Gesellschaft charakteristische Zug ist die Schärfe, mit der sie diese Welt wahr-nimmt, eine andere Dimension der Welt aber verwirft oder sie einfach nicht kennt bzw. unsensibel für diese andere Dimension, für Gottes Gegenwart, für die Dimension der Ewigkeit und dessen, das alles Maß überteigt, bleibt. Doch sollten wir nicht meinen, als ob die säkulare Gesellschaft ein tieferes, schärferes Weltverständnis entwickeln könne. Sobald wir die Viten der Heiligen lesen oder uns der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testamentes zuwenden, erkennen wir klipp und klar, dass niemand so empfindsam für die Welt und das darin integrierte Gotteslob ist trotz der Sünde und ihrer tragischen Trennung von Gott, die indes Gottes Gegenwart in ihr nicht ausschließt, wie die Heiligen und im höchsten Grade Gott Selbst, Der sich uns in Christus geoffenbart hat. So müssen sich nicht das Empfinden für den Verlust Gottes und die klare Weltbejahung entsprechen. Das einzige, das man, wie mir scheint, sagen kann, ist, dass das eine oder das andere in der säkularen Gesellschaft, die wir traditionell Welt nennen, oder in der Kirche vorherrscht und augenscheinlich ist.
Wenn wir an die Kirche und zwar nicht als empirische Gemeinschaft, die wir sind, denken, sondern in einem weiteren und realen Sinne, an jene Gesellschaft, die gleichzeitig und gleichermaßen menschlich und göttlich ist, in der Gott mitten unter uns ist, an jenen Leib, in dem die Fülle der Gottheit in Christus und im Geist wohnt und die in Gott ruht; wenn wir an diese Gesellschaft denken, die Gott und den Menschen einschließt, in ihrem Reichs- und Leib-Werden, dann sehen wir, dass beide Aspekte, von denen ich gesprochen habe, die Kirche betreffen, wenn auch auf verschiedene Weise. Der Verlust der Gottesempfindung, die akute Weltbejahung sind oder müssten Gegenstand kirchlicher Fürsorge für die Kirche sein, der Verlust oder das Fehlen der Gottesempfindung sind der Kirche fremd, wenn wir von ihr als jenem Leib sprechen, den ich gerade zu beschreiben suchte. Doch ist das Fehlen eines Gespürs für Gott auch vielen Gliedern der Kirche nicht unbekannt, eben weil wir alle in einem Wachstumsprozess sind und dieser Prozess keinen geebneten, ruhigen Aufstieg von der Erde zum Himmel, vom kreatürlichen Zustand zur „Teilhaftigkeit göttlichen Wesens” darstellt. Es handelt sich um ein ständiges Auf und Ab, darin gegenwärtig ist die Sünde als Ablehnung, als Verneinung Gottes, aber ebenso das Nichtwissen von Gott, denn wenn wir Gott besser kennen würden, könnten wir Ihn von ganzem Herzen lieben, wie wir ja auch in den menschlichen Liebesbeziehungen uns für die einzige Liebe unseres Lebens entscheiden. Dann könnten wir weit besser unser Leben mit jenem Weg abstimmen, den Christus uns vorschlägt.
Die Kirche wurzelt in einem aus der Erfahrung geborenen Glauben. Sie gründet sich auf die Gewissheit der unsichtbaren Dinge, die für die Kirche — und hier spreche ich von einem jeden Glied, das in ihr lebendig ist, nicht aber von den toten — das Zentrum besetzen. Wir haben zu verstehen, dass Glaube nicht einfach Leichtgläubigkeit ist, dass er nicht bloß in dem auf uns gekommenen Erbe mächtig wird. Wenn der Glaube lebendig ist, sinn- und bedeutungsvoll für den Verkündiger, basiert er auf persönlicher Offenbarung und auf Wissen.
Der heilige Makarios der Ägypter unterstreicht in einem seiner Werke, dass die Gottesbegegnung von Angesicht zu Angesicht die Grenzen von Wort, Gedanken und Gefühl sprengt und uns weder auf uns achten lässt noch intellektuell oder emotional bewusst macht, was mit uns vorgeht. Selbst die Erfahrung an Kraft verliert, hinterlässt sie bei uns die Gewissheit, dass sie geschehen und wenn die Vision verschwunden und unsichtbar geworden ist, bleibt sie doch gewiss.
In diesem Augenblick einer uns unbegreiflichen und unmittelbaren Erfahrung entsteht der Glaube. Natürlich beeindruckt das von dem ehrwürdigen Makarij angeführte Beispiel. Bei uns geschieht es auf niedrigerem Niveau. Wir erinnern uns sicherlich an eine Stelle aus dem Korintherbrief, wo es heißt, dass wir das Licht der Herrlichkeit Gottes im Angesichte Christi sehen. Ich denke dabei an eine Äußerung russischer Mönche: Man könne auf alles verzichten und alles lassen, sobald wir nur auf dem Gesicht eines anderen Menschen den Glanz ewigen Lebens erblicken; dies ist eine durch einen Menschen vermittelte Erfahrung, doch nicht weniger konkret und unzweifelhaft wie die Gottesschau des hl. Makarios. Darin beruht die Gewissheit der Kirche für ihr unerschütterliches Zeugnis, was einige nicht sehen ist real, ja realer als die sichtbare Welt um uns.
Der Verlust des Gottesempfindens ist unvereinbar mit unserer Zugehörigkeit zur Kirche. Unser Zeugnis muss glasklar sein; wir sollten hier keine Bedenken aufkommen lassen, sondern in der Sache klar und deutlich reden.
Ein sensibles Verständnis der Welt, in der wir leben, sollte uns eigen sein, Welt nicht im Sinne der Heiligen Schrift verstanden, im Kontrast zum Reich Gottes. Wir sehen diese Welt nicht materiell, träge, trübe und tot. Nach der Schrift und der Erfahrung aller Gläubigen wissen wir, dass Gott in dieser Welt präsent ist, nicht dass Er die Leere zwischen den festen, undurchsichtigen Objekten füllt, sondern dass Er alles mit Sich erfüllt. Für den Ungläubigen sind wir von Objekten umgeben, die Konsistenz und Farbe haben und klar umrissene Konturen. Für den Gläubigen haben diese Objekte nicht nur Konsistenz und Umrisse, sie haben auch Tiefe. Die Welt, wie sie der Ungläubige sieht, hat nur Umfang und Masse. In ihr gibt es keine Tiefe, weil, wenn wir in einen Gegenstand eindringen wollen, wir in das Innere gelangen und auf der anderen Seite wieder herauskommen. Dringt man in eine Kugel ein, gelangen wir zum Zentrum, aber dieses Zentrum ist die letzte Grenze. Sobald wir weiter gehen, kommen wir auf der Oberfläche der anderen Seite heraus. Für den Gläubigen besteht die Tiefe der uns umgebenden Welt, die Tiefe der Menschen und Objekte darin, dass sie in Gottes Schöpferwort gründen Sie haben ein Schicksal. Potenziell ist die Welt so groß wie Gott Selbst. Und der Tag wird kommen, da nach dem prophetischen Wort des Apostels Paulus „Gott alles in allem sein wird”. Wenn er „von allem” spricht, meint er die sichtbare Welt, in der sich Volumen und Tiefe auftun, um Gott zu fassen, obwohl sie selbst in Ihm schon gefasst ist.
Wenn wir die Welt wahrnehmen, nicht so blind gegenüber der eigenen Tiefe, wie sie sich selbst sieht, wissen wir, dass diese Welt eine Berufung, ein Schicksal, eine Determination hat und wir für die Erfüllung dieser Berufung verantwortlich sind. Die ganze Welt, nicht nur der Mensch, hat seine Vorausbestimmung; doch der Mensch ist der Schlüssel zu deren Erfüllung.
Der Mensch steht am Grat zwischen Gottes Welt und der Welt, die wir gegenständlich nennen, dazu berufen, alles Bestehende in die Erfüllung zu führen. Fällt er von Gott ab, geht er weg von Ihm, verliert er Gott, dann verliert die ganze Schöpfung ihren Führer und den Weg. Im Blick auf die Situation nach dem Sündenfall und die Disharmonie der Welt schreibt Theodor der Studit, die Welt sei mit einem Pferd vergleichbar, das von einem betrunkenen Reiter gelenkt wird. Schuld ist der Reiter, für Uneingeweihte dagegen scheut das Pferd. So verhält es sich mit der Welt, in der wir leben. Sie ist außer Rand und Band geraten. In einem tragischen Zustand der Disharmonie, Entgleisung und Brutalität, befindet sie sich, bedroht von Zerstörung und Tod. Sie stöhnt und leidet wie das Pferd und wartet auf die Zeit, da der Rausch verflogen und die nüchterne Klarheit des Verstandes in den Menschen zurückkehrt; die Reinheit des Herzens steuert den Willen, wo Freiheit und Vollendung der Kinder Gottes offenbar werden, nicht allein im Menschen, sondern in der Harmonie überhaupt.
Verantwortlich sind alle, wir als Christen allerdings tragen die größere Verantwortung, weil wir die Gedanken Gottes kennen. Erinnern wir uns, wie Arnos den Propheten definiert: Er ist ein Mann, der von Gott redet, und dem Gott Seine Gedanken offenbart. Diese einst nur wenigen geltende Berufung ist jetzt Gemeingut aller Christen.
Könnten wir denn die Worte Christi vergessen: Ich nenne euch nicht mehr Knechte, sondern Freunde, denn der Knecht kennt nicht den Willen seines Herrn, euch aber habe Ich alles gesagt (Joh 15,15)? Wenn wir so reich durch das uns geoffenbarte Wissen sind, dann haben wir eine umso größere Verantwortung für alles, was geschieht. Und diese Verantwortung hat Gott Selbst auf Sich genommen.
Er übernahm die Verantwortung für Seinen Schöpfungsakt, als Er Sich nach der Erschaffung des Menschen bei dem Sündenfall nicht von ihm trennte, sondern Solidarität mit ihm übte.
Außerdem wurde der Akt der Inkarnation, in dem sich der Herr mit Seiner Schöpfung identifizierte, dieser Akt inkarnierter Solidarität , in dem Gott stirbt, im Ablauf der Geschichte von denen aufgenommen, die wir Märtyrer nennen, d. h. von den Zeugen der Liebe Gottes, in denen das Gefühl göttlicher Solidarität, das unsere Herzen erfüllt, Opferbereitschaft weckte. Äußerlich erscheint die Welt materiell, tot und träge. In der Kirche wird sie durchschaubar, von Gottes Gegenwart erfüllt und befindet sich in einer dynamischen Bewegung zu ihrer Bestimmung hin – dynamisch, aber nicht gewaltsam, dynamisch, zuweilen auch tragisch. Wenn man diese Sicht der Welt nicht teilt, wird sie unwillkürlich desakralisiert; sie verliert die Eigenschaft des Geheiligtseins, wird nicht nur profan, was ja einfach eine neutrale Situation wäre, sondern profanisiert, aus dem göttlichen Bereich herausgerissen.
Für uns aber ist die Welt geheiligt. Nicht nur in dem Sinne, wie wir dieses Wort gebrauchen, wenn wir sagen, das Leben des Menschen ist heilig und darf nicht zerstört werden. Die Welt ist in dem Sinne heilig, dass sie Gott gehört, nicht nur potenziell, sondern ganz wesentlich. Sie ist Gottes eigene Welt, und der lebendige Gott wohnt in ihr. Anders gesagt, wenn wir einer solchen Beziehung zur Welt zustimmen, durch die sie desakralisiert wird, nehmen wir ihre radikale Säkularisierung in Kauf, dann müssen wir die Inkarnation des Wortes Gottes verneinen, die Wunder Gottes, die Sakramente. Wir behaupten doch nicht nur, dass der Sohn Gottes zum Menschensohn wurde und zweifeln nicht daran. Wir behaupten vielmehr, das Wort Gottes, Gott Selbst, wurde Fleisch; die Fülle der Gottheit wohnte leibhaftig unter uns (Kol 2,9) im Fleisch eines Menschen; der Körper der Inkarnation stellt den sichtbaren und betastbaren Stoff der ganzen Schöpfung dar, die sich als gottträgend erwies. Sie ist erfüllt von der Gegenwart Gottes, ohnedass Er aufhört, Er selbst zu sein. Wäre dem nicht so, würde die Inkarnation die Natur des Geschaffenen selbst zerstören und Christus wäre ein im Menschenantlitz erschienener Gott, aber nicht das inkarnierte Wort, der wahre Mensch und der wahre Gott.
Dies bezieht sich auch auf die Sakramente. Sakramente sind nur möglich, wenn wir glauben, wie uns die Bibel, Gottes geoffenbarte Wahrheit gebietet, und wir wissen aus keimhaft vorgebildeter Erfahrung, dass alles geisttragend und gotttragend zu sein befähigt ist, alles im schöpferischen Wort wurzelt, eben dadurch mit Gott verbunden: Gott Alles in allem. Sofern wir das nicht glauben, wird uns die reale Theologie der Sakramente unzugänglich. Dann wird tatsächlich das Brot niemals zum Leib Christi, weil es in keiner Weise etwas Größeres werden kann als das gewöhnliche, essbare, dem Verzehr unterworfene Brot und nichts weiter; dann kann der Wein in keiner Weise zum Blut Christi werden, er kann nichts Größeres werden als das, wozu er geschaffen ist.
Wir aber glauben, dass dies geschieht. Und wenn wir von diesem Brot und von diesem Wein reden, dann sprechen wir nicht von einem bestimmten Stückchen Brot oder einem bestimmten Kelch Wein, die sich von den übrigen geschaffenen unterscheiden. Sie sind gewissermaßen ein Muster dafür, und alle sind zu dieser wunderbaren und unbegreiflichen Fülle gerufen, die wir im Sakrament von Blut und Leib erkennen, im Leibe Gottes, der — wenn man sich so ausdrücken will — materiell erscheint, wie er einst im Fleisch Dessen erschien, Der von der Jungfrau geboren wurde.
Gott schuf sie als solche, dass sie nicht aufhören zu sein, wie sie sind und doch von Gott durchdrungen werden. Wenn daher Brot und Wein gesegnet ist, werden sie tat- sächlich zum Leib und Blut Christi. Sie sind zwar dafür dimensioniert, aber hören nicht auf zu sein, was sie sind, Brot und Wein.
Ganz so verhält es sich auch mit unserem Verständnis der Welt und der Wunder Gottes. Erst eine Theologie, die der Materie die Tiefe verleiht, die Berufung, die Würde und Gottesentsprechung, die ihr die Fähigkeit zubilligt, von der Präsens Gottes erfüllt zu sein, lässt uns an die Wunder Alten und Neuen Testamentes glauben. Ich denke nicht an die Wunderheilungen, die man leicht — allzu leicht! — in den Termini psychosomatischer Handlungen erklären kann. Ich rede von jenen Wundern, die die Natur betreffen, ohne Beteiligung des Menschen, beispielsweise der Sturm auf dem Galiläischen Meer. Wenn wir aufhören, die Welt mit den Augen der Glaubenserfahrung zu sehen, dann nehmen wir den Standpunkt dieser Zeit ein, die blind, säkular ist, d.h. wir verlieren die Dimension der Heiligkeit dessen, was Gott als heilig geschaffen hat.
Wir haben es hier mit einem sehr ernsten Problem zu tun; in christlichen wie auch anderen Gemeinden gibt es eine Glaubenskrise, weil es eine Erfahrungskrise gibt. Diese Glaubenskrise verweltlicht uns, lässt uns nicht mit unserem ganzen Leben an der ursprünglichen, unmittelbaren Erfahrung Gottes, des Menschen und der gesamten Welt teilhaben. Dies ist umso relevanter, weil, wenn wir diese Fähigkeit verlieren, sie auch für die Welt verloren ist. Wo das Salz seine Salzkraft verliert, ist es zu nichts mehr nütze, als dass man es wegwirft. Das wäre der gerechte Lohn dafür, dass wir die Offenbarung Gottes verraten haben, das, was Gott uns und durch uns offenbart.
In der Kirche wie in der säkularen Welt gibt es ein weiteres Moment, das wir, wie mir scheint, berücksichtigen sollten. Ich meine die immer mehr wachsende und sich ausbreitende antiklerikale Haltung. Kein Wunder, dass unsere Umwelt antiklerikal ist. Der Anaklerikalismus allerdings wächst auch innerhalb der Kirche. Wenn er eine Mischung widerspiegelt von Klerikalem und Heiligem, offenbart sich das Böse. Im anderen Sinne kann, wie mir scheint, die antiklerikale Position beachtlich und wertvoll sein.
Ich will jetzt nicht davon reden, was ein Priester ist, aber ich möchte in diesem Zusammenhang ein paar Worte dazu sagen, was ein Priester nicht ist, genauer, ich möchte den Priester wieder in den Kontext bringen, in den er gehört.
Vor einigen Jahren hörte ich eine Vorlesungsreihe einer gewissen Denomination, die das Priestertum behandelte. Der Referent war ein bekannter Theologe. Er verweilte bei der Tatsache, dass der Priester über ungewöhnliche Macht verfüge. Christus habe ihm die Macht verliehen, Seinen Leib und Sein Blut zu heiligen, zu kommunizieren, die Sünden zu erlassen oder zu behalten, d.h. die Macht zu binden und zu lösen (Mtl8,18). Dabei kam er auf etwas zu sprechen, das mir Grauen einflößte: „Streng genommen, hat der Priester größere Macht als Christus, weil es jetzt, wo Christus zum Himmel aufgefahren ist, in den Kräften des Priesters liegt, dem Volk zu verwehren, was Christus möglicherweise geschenkt hätte; es genügt, dass der Priester die Kirche verschließt, um Kranke und Sterbende der Kommunion zu berauben.”
Dies versinnbildlicht, wie kein Priester ist. Es ist eine Lästerung. Wir denken daran, dass es nur einen Priester, einen Hohenpriester der Kirche, gibt: Jesus Christus, den Herrn. Es gibt keinen anderen Priester im Vollsinne des Wortes. Jedes Mal, wenn wir die Göttliche Liturgie feiern, handelt Christus.
Oft habe ich die Menschen an die Worte zu Beginn der orthodoxen eucharistischen Liturgie erinnert: Wenn alles bereitet ist, die Gemeinde versammelt, Brot und Wein gerüstet und nur noch der Beginn des Gottesdienstes bevorsteht, wendet sich der Diakon an den Priester mit den Worten: „Es ist Zeit für das Wirken des Herrn”. Wie seltsam! Ist es nicht der Augenblick, wo sie zu handeln anfangen sollten? Nein. Sie werden Worte sagen, die nicht ihnen gehören, und sie werden Handlungen tun, die nicht ihre Handlungen sind. Die Worte sind des Christus; die Handlungen des Herrn. Was sie von diesen Handlungen erwarten, kann kein Handeln bewirken. Worauf sie hoffen, kann kein Wort gewähren; es sei denn, wir erkennen die Theologie als Magie. Die Gaben zu wandeln, das Gebet zu erfüllen und darauf zu antworten, vermag nur die Kraft des Heiligen Geistes. Mithin hat der Priester seinen Platz, seine Bedeutung.
Wo es aber zum Wesen der Sache kommt, in dem bedeutendsten Geschehen in der Kirche, gibt es keinen anderen Hohenpriester außer Christus, keine andere Kraft außer der des Heiligen Geistes in Seiner Freiheit und in Seiner Liebe. Wenn man uns in den Theologischen Lehranstalten häufig daran erinnerte, wo unser Platz sei, dürfte das wohl auch für die Laien gelten und für die Kleriker. Dies mindert mitnichten die Bedeutung des Priesters, sondern gibt Gott den Ihm gebührenden Platz und macht möglich, woran man anders nicht glauben kann. Kein menschliches Wort, keine Handlung kann das Irdische in das Himmlische verwandeln. Keine menschliche Kraft oder menschliche Schläue können Gott zu einer Handlung zwingen, die in gewissem Sinne eine Inkarnation darstellt.
Ich sagte bereits, dass die Kirche eine sonderbare Gemeinschaft ist. Ich möchte kurz gesagt unterstreichen, fass sie wohl die einzige Gesellschaft ist, in der nicht geboren wird. Glied wird man dadurch und in dem Maße, wie man ihre Werte schätzen lernt. Anders wird deine Anwesenheit in der Kirche nur schemenhaft, äußerlich tot, ihr fremd sein, selbst wenn du alle ihre Riten und Handlungen befolgst. Der Kirche kann man nicht mechanisch angehören und in ihr kann man nicht mechanisch bleiben. Dies ist eine dynamische Situation, eine zugleich menschliche und göttliche Gemeinschaft, in der Menschheit in der Menschheit Christi auftritt und unser Menschsein dem eingepfropft wird, was nach unserer Berufung unser werden muss. Es ist die Gemeinschaft deren Herzstück Gott ist; „Immanuel”: Der Herr reut uns.
Und in diesem Sinne ist die Kirche, fürwahr streng und nüchtern genommen, das Ende der Religion, wie sie die heidnische Welt versteht, als ein System von Riten, Gebeten, Beschwörungen, Zaubersprüchen, Handlungen, die Gott zu uns herbeiführen, Ihn zwingen oder zumindest Ihn überzeugen sollen, sich uns zu nähern.
Nichts dergleichen wird von uns gefordert. Gott ist unter uns. Wir müssen nicht Ihn zum Kommen bewegen, selbst wenn das in unserer Macht stünde. Da ist keine Ordnung, keine Handlungsweise, die wir hinzufügen oder lassen können. Christus hat gesagt: „Selig sind, die reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen”.
Kirche ist Ort der Gegenwart Gottes, Wohnung Gottes; wenn aber die Inkarnation, die Gabe des Heiligen Geistes, die Gesamtheit des Geheimnisvollen der Kirche, das Ende der Religion im alten Sinne bedeutet, dann ist damit nicht das Ende der Anbetung gekommen, ganz zu schweigen von einem Ende ehrfürchtigen Dienstes. Anbetung erwächst in uns aus dem Gefühl göttlicher Gegenwart. Andacht bestimmt den Ort, an dem wir Gott in unserem Leben begegnen. Aber darüber hinaus bedeutet sie, dass es eine unendlich vielschichtige Mannigfaltigkeit geben kann, nicht nur in den Möglichkeiten, unsere Gottesbeziehung auszudrücken, sondern eine unendliche Vielfalt der Möglichkeiten, durch die ein jeder von uns mit Gott verbunden ist. Mir scheint, dass gegenwärtig nicht nur die Welt, sondern auch die Kirche, das Volk Gottes, der Worte und Handlungen müde geworden sind: ihrer gibt es weit mehr als nötig, um nüchtern die realen Situationen auszudrücken.
Ich würde gern mehr sagen als ich jetzt kann, in welcher Richtungen man, wie mir dünkt, nachdenken sollte über eine Reform, genauer gesagt, wie wir aus den Tiefen kirchlicher Erfahrung nicht nur persönliche, private Anbetung Gottes, sondern auch liturgische Gottesverehrung schaffen und gestalten können.
Zum Ersten, wenn Gott schon unter uns ist, wenn wir mit Ihm zusammen eine geheimnisvolle Gemeinschaft und einen unbegreiflich geheimnisvollen Leib bilden, dann können wir wahrlich, was die Kirche betrifft, still verharren in diesem Bewusstsein und Gott in Wahrheit und im Geist anbeten. Zum anderen besteht die Kirche nicht nur aus denen, die zu dieser Anbetung fähig sind, und selbstverständlich nicht nur aus Menschen, die das, was das Schweigen trägt, rezipieren und wortlos verstehen können, was das Schweigen zu sagen hat. Die Kirche könnte mindestens zwei oder auch drei Arten von Gottesdienst entwickeln. Einen für jene, die empfindsam und fähig sind, an einem Gottesdienst teilzuhaben, wo die Hauptsache Schweigen ist, die Handlungen und Worte Symbole, die von sich wegführen in das Herzstück des Schweigens, in dem Gott wohnt und wirkt; Versuche in dieser Richtung finde ich aufbauend und bereichernd.
Und am anderen Ende des Spektrums finden sich die Gottesdienste, die nicht nur nach der Art sind, Wirkungen von oben zu sein und zu empfangen, sondern auch bestimmt, es denen zu vermitteln, für die das Schweigen zu tief und unverständlich ist, das durch Gesten und Worte zu vermitteln, was im Schweigen vollständiger ausgedrückt ist als in jedem Wort oder wie auch immer gearteter Geste.
Doch im Herzstück eines jeden Gottesdienstes muss zum Bewusstsein kommen, dass alles Geschehen ein göttlicher Akt ist, der nicht adäquat ausgedrückt werden kann, dies ist schlicht unmöglich. Ihn kann man nicht mit einer undurchsichtigen liturgischen Schönheit fassen; er muss so durchschaubar, nüchtern und kristallrein weitergegeben werden, dass keine Schönheit die Schau und das Gefühl für die Gegenwart Gottes verdunkeln kann.
Wenn wir in unseren unterschiedlichen Gemeinden nicht dazu kommen, dass Gott der Vollzieher der Sakramente ist, werden wir Ihm niemals und nirgends begegnen. Ist aber für uns Gott der Vollzieher der Sakramente, der Heilige Geist die wirkende Kraft, das Schweigen die Form, in der wir rezipieren, in der wir die Gegenwart Gottes und die göttlichen Gaben entdecken und erleben, sind wir in der Lage, dies in jedem Augenblick zu empfangen, und wir werden Ihm begegnen können, weil wir in unseren Tiefen und in dieser Situation für die
Begegnung reif geworden sind. Entwickeln wir andere Formen des Gottesdienstes, wo wir von innen und nicht über die Erfahrung von außen das weitergeben können, was das Schweigen ausmacht, werden wir vieles einander verständlich machen, durch eine für alle (oder wenigstens für viele) akzeptable Art. Gott muss das absolute Zentrum werden, falls wir wollen, dass unsere liturgische Verehrung für Ihn zum Ort wird, an dem wir uns begegnen können, nicht in den Termini der Ökumene als getrennte Christen voll guten Willens und zu Kompromissen bereit, bereit, auch abzulegen oder zu vergessen die eigene Erfahrung und Hingabe, sondern uns neu zu begegnen: als Menschen, die in einem bestimmten gegenseitigen Verhältnis zu Gott stehen und innerhalb dieser gegenseitigen Beziehung einander finden. Dann wird unser Gottesdienst zu einer Herausforderung, zu einem Ärgernis, zu einem zweischneidigen Schwert. Dann wird er unvereinbar sein mit allem, was gottlos, böse, blind, im säkularen Kontext undurchsichtig ist. Dann wird sich vielleicht der Kontrast schärfer und dramatischer offenbaren als der Gegensatz zwischen der Pracht eines kirchlichen Gottesdienstes und der säkularen Form ehrfürchtigen Dienstes. Dann wird die Kirche abermals ihre eigene Dimension und ihren Rhythmus finden und hier, im Herzstück der Dinge, wieder das werden, was sie am Anfang war: nicht eine kleine Gemeinschaft innerhalb der umfassenderen, sondern eine in gleicher Weise göttliche wie menschliche Gemeinschaft, und folglich unbegrenzt, tiefer und größer als die Welt selbst. Und das wird nicht nur in Gott, sondern auch an uns geschehen. Wir werden größer und weiter als die ganze Welt werden, ja die Welt umfassen und sie zu ihrer Fülle führen können.
Metropolit Antonij von Suroz
(Vortrag in Genf, 1969)