Jenseits des Grabes triumphiert das Leben!
Gefangen in ihrem Leben vergänglicher Eitelkeit, können die Menschen dieses Zeitalters den Glauben an die Unsterblichkeit nicht begreifen. Für diejenigen, die im Leben ihres Geistes schon eine Begegnung mit Gott gehabt oder eine Offenbarung über den Tod erlebt haben, wird Unsterblichkeit zu einer Selbstverständlichkeit. Das Wort Gottes weist hier die Leitlinien, die es, bedeutsam genug, zu erschließen gilt.
Absolut unverständlich bleibt die Behauptung des Unglaubens, der Tod sei das völlige Erlöschen des Lebens. Dieses Verlöschen wird nicht nur als totale Vernichtung der sichtbaren Formen des körperlichen, sondern auch des geistlichen, bewussten, emotionalen und schöpferischen Lebens gedeutet. Um nicht der Todesproblematik ausgesetzt zu sein, rettet sich ungläubiges Denker in diese „äußerste” Finsternis, was ein weiteres Mal bekräftigt, dass der Tod wohl als ein Teil des Lebens, nicht aber umgekehrt verstanden werden muss. Das Leben lässt sich nicht im Nichts der Sterblichkeit versenken. Wenn schon ein Parasit des Daseins, ist der Tod doch ein Akt des Lebens. Das „Nichts”, aus dem Gott die Welt schuf, ist als solches in Wirklichkeit nicht existent. Erst mit der Welt beginnt sein positives Sein. Gott, Der aus nichts die Welt schuf, gibt damit sowohl dem Dasein wie dem Nichtsein Raum. Ein eigenständiges Nichtsein, die „äußerste” Finsternis, existiert überhaupt nicht.
Gott hat den Tod nicht geschaffen… Er hat alles für das Leben bereitet (Weish i, 14). Gottes Schöpfungsplan war nicht der Tod, der „in die Welt” trat durch den Neid des Diabolos (Weish 2, 24), denn Gott hat den Menschen für die Ewigkeit bestimmt (23). Mithin kann der Tod nur als Befindlichkeit des Lebens erkannt werden. Sterblichkeit des Lebens ist eine nicht aufzuhebende, aber auch nicht unbesiegbare Krankheit. Der Tod war nicht und wird nicht sein. Von Anbeginn ist der Mensch nicht für den Tod geschaffen worden, ihm wurde vielmehr die Möglichkeit der Unsterblichkeit geschenkt. Durch ein spirituell-schöpferisches Verhalten sollte er diese Möglichkeit in sich festigen. Er konnte sie jedoch auch verlieren, wie in der Ursünde geschehen. Dieser Verlust wurde durch Gottes Urteil besiegelt, das die eingetretene
Veränderung sehr ernst nimmt: „Du sollst wieder zur Erde zurückkehren, von der du genommen, denn du bist Erde und sollst wieder Erde werden” (Gen 3, 19). „Der Staub muss wieder zur Erde kommen, wie er gewesen ist, und der Geist wieder zu Gott, Der ihn gegeben hat” (Koh. 12, 7).
Der Tod besteht in der Trennung des menschlichen Geistes von der durch die Seele belebten Körper, also von der Erde, die seine kreatürliche Natur ausmacht. In seiner Spiritualität hat der menschliche Geist potenzielle Unsterblichkeit und vermag diese Fähigkeit seiner ganzen komplizierten Art zu verleihen. Die Ursünde erwuchs aus dem Abirren des Menschen von dem Weg der Einheit mit Gott und brachte den Tod; er drang durch die Sünde in den menschlichen Geist ein. Dieses Abirren konnte natürlich nicht zum Tode des von Gott ausgegangenen unsterblichen menschlichen Geistes führen (wie er denn dazu auch nicht im Umfeld der gefallenen Geister geführt hat), wohl aber ihn so stark schwächen in seiner Kraft und in der Macht über seine seelisch-körperliche Natur, dass das noch nicht zur Stabilität gefestigte Gleichgewicht ins Gegenteil umschlug. Was zur Einheit der dreigliedrigen Beschaffenheit des Menschen, nämlich Geist, Seele und Leib, vorherbestimmt war, unterwirft sich im Tode zeitweiliger Trennung. Der Geist verliert die Fähigkeit einer ständigen Verbindung mit seinem Leib und begrenzt damit seine eigene Kraft. Sterblichkeit wird zum Attribut des gefallenen Menschen. Zwar tritt der Tod erst zur vorherbestimmten Stunde ein, doch seinem Wesen nach erstreckt er sich von Anfang an über das gesamte menschliche Leben. Die Tatsache, dass der Mensch in jedem Alter sterben kann und alle Todesfälle lediglich den Grundsatz der Sterblichkeit bestätigen, ist Beleg genug. Alles Lebendige, d. h. der Mensch und mit ihm auch die gesamte lebendige Schöpfung beginnt bereits zu sterben mit dem Anfang des Lebens. Eine wachsende tödliche Schwächung begleitet den Verlauf des Lebens, bis sie es schließlich besiegt.
Trotzdem bedeutet der Tod keineswegs einen Missgriff des Schöpfers in der Schöpfung, durch den Er sie gewissermaßen selbst zu Grunde gehen lässt. Er hat immenschlichen Leben keinen eigenen Platz, es könnte ihn auch nicht geben im menschlichen Leben, weil Gott ihn nicht geschaffen hat. Er ist jedoch potenziell in dem sterblichen Gebilde des Menschen und seiner Kompliziertheit eingeschlossen. Derartig kompliziert sind die körperlosen Geister nicht, weshalb sie der Tod auch nach ihrem Fall nicht berühren konnte. Es ist der Reichtum des Menschen und seine Komplexität, die ihn der Todesgefahr aussetzen. Wie die gesamte Schöpfung ist der Mensch eine „Legierung” aus Sein und Nichtsein, wobei das letzte dominiert, sobald das Gleichgewicht ins Schwanken gerät. Verantwortlich für das gestörte Gleichgewicht in der gesamten Menschheit wie auch in einem jeden einzelnen Menschen ist die Ursünde. Nur Christus kann den ursprünglichen Zustand wiederherstellen. Daher ist Gottes Urteil über einen jeden Menschen keine von außen auferlegte Strafe, sondern die Folge des gestörten Gleichgewichts und der entblößten Kreatürlichkeit: „Erde bist du”. Beim Sündenfall kam es nicht zu einem völligen Zerbruch in der Verbindung von Geist und Erde, was die eigentliche Vernichtung des Menschen bedeutet hätte, sondern lediglich zu einem bestimmten und nicht endgültigen Riss.
Das Bild Gottes wird im Menschen bewahrt; die göttliche Vorsehung für die Schöpfung kann nicht unwirksam bleiben. Doch auf den Wegen menschlichen Lebens wirkt sich eine schmerzliche Unterbrechung mit zeitweiser Trennung von Seele und Körper, also der Tod aus. Nicht als letztgültiger Zustand, was einer misslungenen Schöpfung des Menschen gleichgekommen wäre, sondern als ein unvermeidliches Stadium seines Lebens.
Der Tod ist nur Zulassung Gottes, von der Vorsehung dem Leben als notwendiger Ausdruck menschlicher Sterblichkeit zugeordnet. Sie reift im Laufe des ganzen Lebens und beweist sich im Augenblick „der Todesstunde”. In diesem Sinne ist der Tod eine normale, wenn auch widernatürliche Gesetzmäßigkeit, weil er durch die Sünde in die Welt gekommen ist. Im Zusammenhang mit ihm steht die unüberwindbare von der menschlichen Natur nicht weichende Todesfurcht. Der Gottmensch bekennt: „Meine Seele ist betrübt bis zum Tode”, – „Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?” Der äußerste Todesschmerz, das Gefühl der Gottverlassenheit (welches sich auf wunderbare Weise in der Einheit mit Christus und Seinem Mitsterben in uns auflöst) begleitet den Tod wie ein schwarzer Schatten, und die Kirche mindert in ihren Grabeshymnen den Schmerz tödlicher Gewalt nicht.
Soweit die geistliche Seite des Todes. Auch ist dergestalt die körperliche, da der Tod die Krankheit der Krankhei¬ten, das Leiden aller Leiden ist. Diese natürlich nicht zu überwindende Furcht ist übernatürlich schon überwunden durch die Gnade Christi, Der den Weg des Todes durchschritten hat.
Der Tod muss mit der künftigen Auferstehung in eins gesehen werden. Sie stellt das unterbrochene Leben wieder her und damit die nichtsterbende Grundlage im Menschen, die noch im Zustand jenseits des Grabes lebt (und vor der auch der Selbstmord nicht rettet). In der dreifachen Beschaffenheit des Menschen scheidet die trennende Sense des Todes den Geist samt Seele von dem Leib. Sehr wichtig ist, diese Unteilbarkeit von Geist und Seele im Tode zu konstatieren. Die Seele ist ein Zwischenprinzip, das den Geist mit der kreatürlichen Welt verbindet. Die Seele ist kreatürlich, aber ihre überphysische Energie des Lebens wird bewahrt. Schon deshalb kann man nicht von der Totalität des Todes im Sinne eines Sieges des Nichtseins reden. Der volle Triumph des Todes fände nur in dem Falle statt, wenn er eine Trennung des Geistes von Seele und Körper wäre, d. h. eine Entkörperung. Dies bedeutete die Vernichtung auch des Menschen selbst. Ist denn eine solche Entkörperung in Bezug auf den menschlichen Geist denkbar? Hat denn der Geist eine eigene Daseinskraft und Unsterblichkeit außerhalb des Körpers, und ist er denn nicht in den Körper eingeschlossen wie in einem Gefängnis?
Der persönliche Geist des Menschen ist von Gott geschaffen worden. Dies heißt, dass sein persönliches Prinzip zum Dasein berufen ist, sozusagen als eine gewisse Widerspiegelung der göttlichen Persönlichkeit im Nichtsein. Aber die menschliche Persönlichkeit kennt kein geistliches Dasein unabhängig von der Verkörperung. Der menschliche Geist ist nach der Schöpfung kein körperloser Geist, wie inn cie Engel haben. Ein derartiges von der Welt unabhängiges Dasein des menschlichen Geistes gibt es nicht. Das Dasein des menschlichen Geistes, und eben damit auch die Unsterblichkeit, sind unauflöslich mit der Welt verbunden und haben in ihrer Verwirklichung Raum für den Tod und die Auferstehung. Das eine wie das andere ist mit Christus geschehen, und in Ihm und durch Ihn mit der ganzen Menschheit; es hat Platz für sich in der menschlichen Natur, die bei der Inkarnation vom Herrn gänzlich angenommen wurde. Und daher wäre eine Trennung, die im Tode geschieht, unmöglich, wenn sie den Geist von der ganzen menschlichen Natur, d.h. von Seele und Leib trennen und eben damit den Menschen völlig zerstören würde, indem sie ihn entkörperlicht.
Im Gegenteil. Diese Trenung des Todes scheidet den menschlichen Geist, der in der Einheit mit der Seele verbleibt, nur von dem menschlichen Körper, d. h. von der ganzen natürlichen Welt. Damit verliert die menschliche Energie (Seele) die Fülle des Lebens, wird aber durch die in der Auferstehung des Gottmenschen wirksam gewordene Kraft Gottes zu ihrer Wiederherstellung fähig und damit zur eigenen Auferstehung. „Alle werden leben, ein jeder in seiner Ordnung als Erstling Christus; und danach … die Christus angehören” (1 Kor 15, 22-23). Darauf bezieht sich das Bild vom Korn, das in sich die ganze Lebenspotenz trägt: „Was du säst, ist ja nicht der Leib, der werden soll, sondern ein bloßes Korn, sei es von Weizen oder etwas anderem. Gott aber gibt ihm einen Leib, wie Er will, einem jeden Samen seinen eigenen Leib” (15, 37. 38).
Der menschliche Geist existiert als Potenz des ganzheitlichen Menschen, der einen Körper hat und dessen Energie die Seele ist. Im Tode ist diese Energie gelähmt, aber nicht vernichtet. Sie bleibt dem persönlichen Geist eigen als seine Qualität. Daher ist es so wichtig, den menschlichen Tod nicht als Vernichtung zu sehen, sondern als ein Entschlafen, d. h. eine zeitweilige Handlungsunfähigkeit der Seele gegenüber dem Leib. In diesem Sinne kann man auch „von den Entschlafenen” reden. Der Tod Christi als ein Lebensakt Seiner menschlichen Natur unterscheidet sich in seinem Wesen nicht von dem menschlichen Tod schlechthin. Sein dreitägiger Aufenthalt im Grabe entspricht ganz dem Leben des Menschen jenseits des Grabes. Aber die Kraft des Todes Christi war begrenzt: Sie war nicht von innen her unvermeidlich, sondern von Ihm freiwillig auf Sich genommen. Die Gemeinschaft mit den Seelen der Entschlafenen, welcher Art „die Predigt im Totenreich” war, zeugt davon, dass der Herr nach dem Tode in einen Zustand trat, der Ihm die Gemeinschaft mit den Verstorbenen erlaubte. Diese Verbindung zwischen den Seelen der Verstorbenen und der Welt wie auch untereinander kommt in einigen Gleichnissen zum Ausdruck, so zum Beispiel in der Rede vom Reichen und dem armen Lazarus, deren See-len einander in ihrer irdischen Individualität erkennen: Der Reiche „hob seine Augen auf und sah in der Ferne Abraham und Lazarus” (Lk 16, 21).
Gewöhnlich wird im kirchlichen Schrifttum (in den Viten und Prologen wie auch in den patristischen Werken, so bei hll. Makarios dem Großen oder Kyrill von Alexandria) sowie in etlichen kirchlichen Hymnen der Tod mit außergewöhnlich konkreten Zügen beschrieben. Nach diesen Beschreibungen besteht er in der Scheidung einer gewissen durchsichtigen Hülle vom Körper, die seine Gestalt hat und seine Lebenskraft bewahrt. Gleicher Art sind in verschiedenen Fällen die Erscheinungen von Verstorbenen in ihrer Lichtgestalt. Fasst man alle diese Andeutungen zusammen, können wir zu dem Schluss gelangen: Obwohl kein Dogma, bleibt es doch in jedem Falle Ausdruck der vorherrschenden Tradition
der Kirche, dass der Mensch bei seinem Tode lediglich vom Leib getrennt wird, nicht aber von der Seele, die in der „Welt jenseits des Grabes” weiter lebt, d. h. unter neuen Existenzbedingungen. Die in solchen Umhüllung verharrende Seele hält in einer überkörperlichen Gestalt die Verbindung mit dem Geist. Im Vergleich mit der dem Menschen seiner Natur entsprechend vorbestimmten Fülle des Lebens im Körper gleicht dieses beeinträchtigte Leben einem „Entschlafen”, ist jedoch keineswegs ein Zerbruch des Körpers. Das Leben geht jenseits des Grabes weiter. Sein Zustand ist für uns unbekannt (weshalb auch jede übermäßige Neugier danach geistlich unge¬sund ist und das christliche Denken in das Abseits des Okkultismus gleiten lässt). Einige merkmalhafte Züge, die sich aus den wichtigsten Thesen unseres Glaubens ergeben, können hier festgehalten werden.
Vor allen Dingen gibt der Tod als Lösung der Seele von den Banden des Leibes (Phil 1, 23) den Blick frei für eine großartige Offenbarung der geistlichen Welt; hatte uns doch der Sündenfall in einen für die sinnliche Leibhaftigkeit undurchdringlichen Lederwams gehüllt und der geistlichen Klarsicht beraubt. Sie wird nur in Christus wiederhergestellt: „Von nun an werdet ihr den Himmel offen sehen und die Engel Gottes herauf- und herabfah¬ren über dem Menschensohn” (Joh 1, 51). Solange wir im Leibe sind, durchläuft der Mensch nur einen Bereich seines Lebens, während er doch zu seiner ganzen Fülle zu gelangen bestimmt ist. Das macht seine irdische Erfahrung so begrenzt. Und wenn der Mensch für immer in den Lederwams seines eigenen Körpers eingeschlossen bliebe, würde er nie reifen zu einem Menschen der ganzen Weite seiner Berufung, denn er ist geschaffen als Bürger zweier Welten, für den Himmel und für die Erde. Die Liebe und Weisheit Gottes haben Wege gefunden, um das menschliche Sein durch Teilhabe des Menschen an der geistlichen Welt zu vervollständigen. Und dies geschieht durch ein tragisches, katastrophales Ereignis, das wir Tod nennen. Die zeitweilige Trennung des Menschen vom Fleisch stößt ihm das Tor zur geistlichen Welt auf.
Im kirchlichen Schrifttum gibt es reichliche Zeugnisse darüber, dass dem Sterbenden Wesen der geistlichen Welt sichtbar werden, Engel wie Dämonen; ihm nähern sich auch die Seelen der Entschlafenen, und in einer weiteren Offenbarung kann ihm der Himmel selbst mit dem in ihm Lebenden zugänglich werden. Was uns an unmittelbarer Erfahrung verschlossen blieb, wird Wirklichkeit, die der Entschlafene erlebt; in ihr wird er leben und sich selbst finden müssen.
Die Offenbarung der geistlichen Welt im Tode ist die größte Freude und ein unaussprechlicher Triumph für alle, die sich in diesem Leben danach gesehnt haben, aber sie ist auch unaussprechlicher Schrecken, Last und Qual für jene, die diese geistliche Welt nicht wollten, nicht kannten oder sie abgelehnt haben. Wer Fleisch war, muss nun unmittelbar die Existenz seiner geistlichen Natur erleben. Er findet sich hier der größten Heimsuchung gegenüber, die seine Wiedergeburt aus einem körperlichen in ein geistliches Wesen unausweichlich macht. Das menschliche Leben scheidet der Tod gewissermaßen in zwei Hälften: in das seelisch-körperliche und das geistlich-seelische Sein, dieses vor dem Tode, jenes nach ihm. Beide Hälften sind unauflöslich miteinander verbunden, beide gehören dem Leben ein-und desselben Menschen an. Aber für die Fülle seiner Menschwerdung muss sich der Mensch nicht nur im sterblichen Leben, sondern auch im Zustand jenseits des Grabes auskennen, um jene Reife erreichen zu können, die ihn zur Auferstehung und zum ewigen Leben befähigt. Der so begriffene, ganz wesentlich zum menschlichen Leben gehörende Tod ist tatsächlich ein Akt fortgesetzten, wenn auch „durch das Entschlafen” beeinträchtigten Lebens.
Damit stellt sich eine neue Frage: Was vollzieht sich oder kann sich überhaupt etwas vollziehen im Jenseits der gewöhnlich als das Ende verstandenen Todeslinie? Was kann dieses Ende des Lebens bedeuten? Ist es nur eine Pause oder zugleich auch Bilanz? Offensichtlich das eine wie das andere.
Im Tod und danach sieht der Mensch sein verflossenes Leben als Ganzes. Dieses Ganze ist bereits das Gericht an sich, sobald die Wahrheit Gottes Zusammenhang, Inhalt und Sinn des Lebens aufdeckt. Es ist das Gericht des „Gewissens”, d. h. unser eigenes Gericht im Angesicht Gottes, Der uns durch und durch kennt. Noch ist es nicht das Endgericht, das erst nach Ablauf der ganzen Menschheitsgeschichte individuell begrenzt möglich wird. In der Theologie heißt es gewöhnlich „das vorlaufende Gericht”. Sein vorläufiger Charakter bezieht sich auf seinen nur individuellen Charakter ebenso wie auf seine Unabgeschlossenheit, weil eine körperlose Existenz in der Welt jenseits des Grabes noch nicht die Fülle im Dasein eines Menschen beinhaltet. Das vorläufige Gericht („der Gang durch die Qualen”) ist die jenseitige Selbsterkenntnis und sich daraus ergebende Selbstbestimmung. Natürlich kommen, bei einer solchen Bilanz der Unterschied und die Individualität der menschlichen Schicksale in ihrer ganzen Vielfalt zum Tragen, denn vieles ist für uns in diesem Zeitalter unbewusst geblieben.
Wichtig als unzweifelhaft augenscheinliche Wahrheit ist festzustellen, dass auch in der jenseitigen Existenz die freie Individualität ebenso wie auch in dieser Welt ein je spezifisches Schicksal auf einem je spezifischen Lebensweg findet, lediglich mit dem Unterschied, dass an Stelle von täuschendem Licht und Halbschatten in der jenseitigen Welt alles von der Sonne der Wahrheit erleuchtet ist, die im himmlischen Zenit steht und mit ihren Strahlen die Tiefen der Seelen und Herzen durchforscht.
Die Geheimnisse der jenseitigen Welt werden bislang nur dürftig durch Offenbarung enthüllt und offensichtlich nicht dazu, um unsere Neugier zu befriedigen, sondern in unserem Bewusstsein die ganze Ernsthaftigkeit einer Verantwortung für all die Dinge unseres Lebens zu wecken. Man wird die jenseitigen Schicksale des Menschen und das vorläufige Gericht in eins sehen müssen mit der Fortsetzung des Lebens jenseits des Grabes, das die Seelen in ihrem körperlosen Zustand erfahren.
Welcher Art ist diese Fortsetzung und gibt es sie? Natürlich büßt der Mensch mit der Trennung vom Körper den Freiraum für „Sachen” oder „Verdienste” ein, die in dieser Welt möglich waren, was auch dem vorläufigen Gericht über den irdisch verlaufenen Teil des Lebens seinen Sinn gibt.. Doch daraus folgt noch nicht die Endgültigkeit dieses Gerichtes. Sie kann es nicht sein, weil jeder Mensch noch zusammen mit der ganzen Menschheit gerichtet werden wird, aber dabei sein mit der irdischen Existenz — wenn auch anders und beeinträchtigt – nicht ausgeschöpftes Leben nicht abschließt, sondern über dessen Grenzen hinaus fortsetzt.
Gewöhnlich wird angenommen, dass Verstorbene in ei¬nem passiven Zustand ihr Schicksal hinnehmen. Diese Vorstellung widerspricht gleichermaßen der Natur des Geistes wie den Befunden der kirchlichen Überlieferung und Offenbarung.
Die Vorstellung von der Passivität jenseitiger Existenz ist richtig in Bezug auf die noch unvollständige Fülle jenseitigen Lebens und die Unmöglichkeit seiner unmittelbaren Einflussnahme auf das Geschehen in dieser Welt, das er nur als Beobachter wahrnimmt.
Immerhin unterscheidet er dabei Licht und Finsternis in seinem eigenen verflossenen Leben, erkennt seine Taten und Sünden. Doch auch jenseits des Grabes währt das Leben des zwar nicht mit dem Körper, so doch mit der Seele bekleideten menschlichen Geistes fort.
Der Geist, dem Freiheit eignet, lebt jenseits des Grabes kraft seiner Unsterblichkeit und vollzieht damit eine schöpferische Selbstbestimmung. Unbeweglichkeit auf den Geist bezogen ist nicht zutreffend und widersprüchlich. Mehr noch, es eröffnen sich für das Leben des Geistes neue Quellen, neue Erkenntnisse, die für ihn in der irdischen Hülle unzugänglich waren. Etwa die Gemeinschaft mit der Welt geistlicher, körperloser Wesen. Die höchste geistliche Gabe des jenseitigen Zustandes ist die andere, neue Erkenntnis Gottes, wie sie die körperlosen Geister haben. Das Dasein Gottes ist für sie so augenscheinlich wie für uns die Sonne am Himmel. Natürlich bietet die Gemeinschaft mit der geistlichen Welt eine unausschöpfliche Vielfalt, denn die Seele zieht nur die an sich und öffnet sich selbst nur denjenigen, die ihrer würdig oder verwandt sind. Die Gemeinschaft mit der Welt körperloser Geister stellt auf alle Fälle eine unversiegbare Quelle neuen Lebens, einer neuen Haltung dar, weshalb Unbeweglichkeit im geistlichen Zustand der Dahingegangenen auf keinen Fall zu behaupten ist. Sie nehmen dieses neue Leben in dem Maße und in der Eigenschaft in sich auf, wie sie dazu fähig sind.
Man wird auch erkennen müssen, dass dieses jenseitige Leben des Menschen in der Gemeinschaft mit der geistlichen Welt für sein endgültiges Befinden keine geringere Bedeutung als das irdische Leben hat und in jedem Fall ein notwendiger Teil jenes Weges ist, der zur allgemeinen Auferstehung führt. Jeder Mensch muss für sich auf seine Weise geistlich reifen und sich endgültig festlegen, es sei im Guten oder im Bösen. Von daher ist der Schluss erlaubt, dass der Mensch in der Auferstehung, obwohl mit sich selbst und mit allem von ihm im Irdischen Erlebten identisch, anders wird, verglichen mit jenem Zustand, in dem ihn die Todesstunde traf: Der jenseitige Zustand ist nicht nur „Belohnung” oder „Strafe”, sondern auch eine neue Lebenserfahrung, die nicht spurlos bleibt, sondern vielmehr das geistliche Antlitz des Menschen bereichert und verändert. In welchem Maße und wie ist uns verborgen; wichtig allein ist, dass die menschliche Seele auch jenseits des Grabes etwas Neues durchlebt und erwirbt, eine jede auf ihre Weise und in ihrer Freiheit.
Das Gleichnis von dem Reichen und Lazarus kann dafür Bestätigung sein. So gefühllos und egoistisch der Reiche auch in den Tagen seines irdischen Lebens war, dort wird er fähig zur Liebe, die er für seine Nächsten empfindet. Die Betonung dieser Regung seiner Seele will jene Wahrheit bekräftigen, dass auch jenseits des Grabes der Mensch geistlich sein irdisches Leben fortsetzt und sein eigenes Schicksal mitbestimmt.
Allerdings lässt sich dieses Gleichnis auch in einem anderen, völlig entgegengesetzten Sinn anwenden, nämlich dass jenseits des Grabes Raum ist für Buße und ihre Früchte. Sie bestehen in jener Veränderung des geistlichen Zustandes, der in dem Reichen beginnt. Liebe ist nicht kraftlos, und Buße bleibt nicht ohne Wirkung. Wenn die irdischen Dinge nicht mehr zugänglich sind, bleiben doch geistliche möglich: Buße und Gebet, die effektive Kraft besitzen. Wir glauben an die Wirkung des für uns hier und dort dargebrachten Gebetes der Heiligen. Und mit bebendem Herzen vertrauen wir unser Leben der liebenden Fürsorge und dem Gebet unserer Nächsten an.
Durch die festgeschriebene Lehre der Kirche, die sich ganz und gar auf das Zeugnis des Wortes Gottes stützt, können wir sagen, dass die Heiligen in der Welt sowohl kraft ihres Gebetes und gnädiger Hilfe überhaupt wie auch auf andere uns noch unbekannte Weise tätig sind. Notwendigerweise ergibt sich von daher der weiter reichende Schluss auf Wandelbarkeit, Entwicklung und Wachstum menschlichen Geistes im jenseitigen Zustand, ungeachtet der zeitlichen Trennung von der Welt mit ihren verschiedenen Stufen und Bildern. Darüber, in welchem Maße das sein kann, informiert uns die kirchliche Lehre durch das Zeugnis des Apostels Petrus (1 Petr 3, 19) über die Predigt des Herrn vor den Geistern im Gefängnis. Diese die menschliche Freiheit respektierende Predigt Christi räumt offensichtlich die Möglichkeit der Annahme oder Verweigerung neuer Selbstbestimmungen ein.
Gleiches lässt sich sagen bezüglich der kirchlichen Lehre von der Wirksamkeit des Gebetes für die Verstorbenen. Darin haben wir einerseits den Hinweis auf das unvollständige Leben der Entschlafenen im Vergleich zu den Lebenden, infolgedessen sie des Gebetes der Lebenden bedürfen. Es geschieht in der Darbringung des eucharistischen Opfers, wobei Lebende und Tote sich in ihm vereinen (symbolisch ausgedrückt in den für Lebende und Tote herausgeschnittenen Prosphoren-Partikeln, die in das heilige Blut Christi getaucht werden).
Ähnlich wie im Bußsakrament der objektive Augenblick der Sündenvergebung unlöslich mit der inneren Aktivität der Buße verbunden ist, so ist auch in der Wirksamkeit kirchlichen Gebetes für die Verstorbenen eine gewisse darauf antwortende Aktivität der Entschlafenen selbst vorausgesetzt. Die Annahme der Gabe kirchlichen Gebetes bedeutet auch aktive Aneignung dieser Hilfe der Kirche, wohlgemerkt der ganzen Kirche, ohne Beschränkungen, d. h. der Kirche der Lebenden wie der Toten. Letzte sind durchaus nicht der Möglichkeit fürbittender Hilfe durch die Lebenden, die sich selbst unablässig an sie halten, enthoben. Hinzuzufügen ist noch die von geistlichen Schriftstellern (wie z. B. Archimandrit Nikolaj Kawasilas) angestellte Erwägung, wonach in der göttlichen Liturgie die dazu würdigen Entschlafenen eine Art geistlicher Kommunion erfahren, was natürlich ebenfalls eine bestimmte geistliche Aktivität in ihnen vorausschickt.
Aus all dem folgern wir, dass man nicht den Zustand jenseits des Grabes als für immer gegeben und unveränderlich betrachten darf. Er ist die Fortsetzung des geistlichen Lebens, das nicht zu Ende geht an der Schwelle des Todes, und ein besonderer Teil des Weges, der zur Auferstehung führt. Denn die Auferstehung ist nicht nur die Einwirkung Gottes auf den Menschen durch die Kraft der Auferstehung Christi, sondern macht eine geistliche Reife zur Vorbedingung, nämlich die Bereitschaft des Menschen zu ihrer Annahme.
Die Offenbarung des Johannes ist voller Beispiele, wie Entschlafene am Leben der Welt teilhaben. Wir zitieren die Passagen Apc.5, 8-12; 6, 9-11; 7,13-17; 14,1-5; 15,1-3: „Und sie sangen das Lied des Mose, des Knechtes Gottes, und das Lied des Lammes”. Dies aber ist das neue Lied des Mose, gesungen im jenseitigen Zustand als Ausdruck dankbarer Gefühle „aller Völker”; 19,1 -6 („Und ich hörte etwas wie die Stimme einer großen Schar”; 20, 4-6).
In der Sprache der Bibel, vorzugsweise Alten Testamentes, wird die Vielfalt individueller Schicksale mit Hilfe eines zweifachen Systems, „das des Totenreiches” und „des Paradieses” ausgedrückt.
Katholiken fügen hier noch das Fegefeuer ein. In der Orthodoxie gibt es neben dem traditionellen Dop-pelschema von Paradies und Totenreich eine heilsame Unbestimmtheit bei der Abgrenzung beider im Blick darauf, dass die Grenze zwischen ihnen durchaus nicht unüberbrückbar ist, kann sie doch auf Grund der Ge¬bete der Kirche überwunden werden. (Dieser Gedanke kommt besonders klar im dritten Gebet am Vorabend des Pfingsttages zum Ausdruck).
Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs ist ein Gott der Lebenden und nicht der Toten, und die höllischen Qualen sind Zustände eines fortgesetzten Lebens, das sie nicht nur erduldet, sondern auch in ihrer schöpferischen Wirkung erlebt.
Zwar werden die Begriffe von Lohn und Belohnung auch im Worte Gottes verwendet, ja kommen sogar aus dem Mund des Herrn Selbst; doch müssen wir sie nicht als ein äußeres juristisches, dem Geist des Evangeliums zuwiderlaufendes Gesetz empfinden, sondern als eine innere Notwendigkeit, der gemäß alles durchlitten wird, was der Berufung des Menschen nicht entspricht, von ihm aber im irdischen Leben begangen worden ist: Er selbst wird gerettet werden, aber „wie durchs Feuer” (1 Kor 3,15).
Die Lehre der Vergeltung im jenseitigen Leben kann nur in begrenztem Maße konsequent angewandt werden, nämlich auf die Christen, die verantwortungsfähig sind für die Befolgung oder Nichtbefolgung der Gebote Christi. Es weckt ausweglose Missverständnisse dort, wo diese Bedingung entfällt. Und dabei betrifft es eine gewaltige, bis heute erdrückende Mehrheit der Menschheit, zumal der Kinder, die im frühen Alter sterben, und der Nichtchristen: der Heiden und der Vertreter anderer Religionen.
Das Schicksal der in früher Kindheit Gestorbenen war seit jeher in der Theologie eine heikle Frage; zumal im Blick auf die ungetauften Kinder. Natürlich kann hier keine Rede von ihrer persönlichen Schuld oder Verantwortung sein. Allgemein gibt es dazu keine konkrete kirchliche Aussage. Immerhin schwindet die Ausweglosigkeit dieser Frage, wenn wir das Leben jenseits des Grabes nicht ausschließlich als Vergeltung, sondern auch als ein sich fortsetzendes irdisches Leben verstehen, das in dem Augenblick beginnt, wo jenes vom Tod abgebrochen wird. Die Dauer des Lebens wie auch die Stunde des Todes obliegen der Entscheidung Gottes und stehen offensichtlich in einem Zusammenhang mit der Individualität eines jeden Menschen und seinem sich daraus ergebenden Schicksal.
Man wird einräumen müssen, dass in der Ordnung göttlicher Zielstrebigkeit auf die Fülle des Lebens hin, die jedem Menschen von Gott gegeben wird, der in die Welt kommt, diese auch den sterbenden Kindern im irdischen Leben zusteht; einem Vogel gleich, der mit dem Flügel die Wasseroberfläche streift, wollen sie am Leben teilhaben und kommen in die Welt nur zu einem alsbaldigen Abschied.
Noch offensichtlicher ist das für die Kinder, die durch die heilige Taufe und Salbung zum Leibe Christi gehören, aber in der Bekenntnislosigkeit gestorbenen sind. Auf ihr jenseitiges Schicksal kann die Lehre von der Vergeltung noch weniger angewendet werden sowohl im Sinne der Erbsünde, von der sie durch die Taufe befreit wurden, als auch im Blick auf persönliche Sünden, die sich wegen ihres zarten Alters als ihnen nicht zuzurechnen erwiesen haben. Ihr jenseitiges Leben, soweit es nicht im Unbewussten verläuft, kann nur in der Verwirklichung und Fortsetzung ihres individuellen, auf der Erde kaum begonnenen Lebens bestehen. Wenn diese Existenz mit der der Engel verglichen wird, so ist das ein Vergleich, der die Unterschiede zwischen Säuglingen und Engeln nicht aufhebt. Jedenfalls wird das Los der entschlafenen Säuglinge von der Kirche als „selig” nach der „untrüglichen Verheißung des Herrn Selbst” bestimmt.
Das gleiche Problem hat die Vergeltungslehre mit den Schwachsinnigen, Missgeburten, Idioten und all denen, die durch Vererbung oder beschränktes Bewusstsein dazu verurteilt waren. Sie können zu Menschen werden und in die Fülle ihres menschlichen Daseins erst eintreten, nachdem sie aus den Fesseln und Banden des irdischen Lebens befreit worden sind. Hierher gehören auch, zumindest in einem bestimmten Maße, die seelisch Kranken. Das Evangelium sieht in ihnen Opfer satanischer Gewalt: Der besessene Gadarener findet sich nach der Austreibung einer Legion Dämonen zu Jesu Füßen wieder und will Ihm nachfolgen. Hier liegt wiederum ein Geheimnis individueller Schicksale vor: Im jenseitigen Leben wird auf eine entsprechende individuelle Art der wahre Lebensinhalt derer vervollständigt und vollzogen, die hier dessen beraubt sind. Angesichts all dieser Fragen klingen die Worte des Heilandes wie eine Offenbarung: „In Meines Vaters Hause sind viele Wohnungen, und wenn es nicht so wäre, würde Ich sagen, Ich gehe hin, um euch die Stätte zu bereiten” (Joh 14, 2).
Die in die jenseitige Welt gelangenden Nichtchristen werden Christus erkennen, Seine Predigt vernehmen und darüber in der Freiheit ihrer Selbstbestimmung entscheiden. Sie werden sich und ihr Leben im Lichte Christi, „das alle erleuchtet”, begreifen und ihre religiösen Anschauungen wie durch einen trüben Spiegel angesichts der christlichen, sie richtenden Wahrheit erkennen. Denn es gibt kein Gericht außer dem der Wahrheit Christi.
Die Auferstehung Christi leuchtete im Totenreich auf als der Sieg über den Tod. Jenseits des Grabes gibt es keinen Raum mehr für ein Dasein außerhalb des Christentums, nicht einmal für die Nichtchristen. Die Pforten der Hölle sind machtlos, um dem stürmischen Pfingstwehen den Weg zu versperren. Die gnadenvolle Wirkung des Heiligen Geistes sprengt des Totenreiches Riegel. Jene Hilfe, die den Seelen der Entschlafenen durch die Gebete der Kirche erwiesen wird, ist eine direkte Gnadenwirkung des Heiligen Geistes jenseits des Grabes. Natürlich sind uns Wege und Arten dieser heilsamen Handlung unbekannt; uns bleibt nur eine allgemeine Verheißung darüber, dass „Gott den Geist nicht nach Maßen zuteilt”. Die allgemeine Auferstehung, die in der Macht Gottes liegt, vollzieht sich in der Verbindung mit dem historischen Reifen der Welt und des Menschen. Jenseits des Grabes setzt sich die Geschichte samt dem hier auf der Erde Geschehenen fort. Beide sind miteinander verflochten.
Der Weg zur allgemeinen Auferstehung bahnt sich durch das Todestal zum jenseitigen Leben oder führt über eine gleichermaßen starke „Verwandlung”: „Wir werden nicht alle sterben, aber wir werden alle verwandelt werden”. Sobald die Posaune ertönt und die Toten unverweslich auferstehen, werden wir verwandelt (1 Kor 15, 51. 52).
Jeder der beiden Teile des Lebens, der irdische wie der jenseitige, stellt etwas Selbstständiges dar, doch beide bringen erst die Fülle des Lebens eines jeden Menschen zum Ausdruck. Gäbe es natürlich keine Ursünde und in deren Konsequenz den Tod, würde sich diese Fülle auf einem anderen Wege verwirklichen, ohne jene schmerzliche Trennung der Seele vom Leib. Dieses Offenbarwerden der geistlichen Welt, die zum Erbteil wird für die Eintretenden in die Welt jenseits des Grabes, geschähe auf direktem Wege; und die körperliche Hülle wäre dafür kein Hindernis mehr wie jetzt, sondern durchsichtig für das Wesen der geistlichen Welt. Was durch die Sünde verloren ist, wird durch die vom Tode bewirkte Scheidung wiederhergestellt.
Der Tod ist weder unbedingt noch allmächtig. Er unterspült den Baum, aber er ist nicht unüberwindbar, denn besiegt ist er schon durch die Auferstehung Christi.
Wenn Christus die Annahme der menschlichen Natur bejaht hat, so würdigte Er sie durch die Annahme der menschlichen Sterblichkeit, weil ohne sie die Inkarnation unvollständig gewesen wäre. Und wenn Christus jeden Menschen erlöst und auferweckt, dann nur, weil Er mit ihm und in ihm mitgestorben ist. In diese Fülle des Todes, genauer des Mitsterbens Christi eingeschlossen, ist der Tod eines jedes Menschen und der ganzen Menschheit. Der menschliche Tod ist auch der Tod Christi, und zur Fülle dieses Todes zu gelangen obliegt uns, wie auch Er Sich zu unserem Tode gestellt hat, nachdem Er Fleisch angenommen hatte und Mensch geworden war.
Durch Seinen Tod hat Christus den menschlichen Tod auf dem Wege zur Auferstehung besiegt. Er ist es, Der auferweckt, Seine Menschheit vom Tode befreit. Um der ganzen Fülle dieser Befreiung willen musste Er die ganze Fülle des Todeskelches leeren. Wenn nun die Menschheit in Christus und mit Christus aufersteht, dann vor allen Dingen deswegen, weil sie mit Christus und in Christus stirbt.
Das irdische Leben ist auf den Tod ausgerichtet, aber die schreckliche Stunde des Todes ist die frohe Stunde einer neuen Offenbarung, Wirklichkeit wird der Wunsch „abzuscheiden und mit Christus zu sein”. Und im Unterschied zur hiesigen Welt leuchtet im Vertrauen auf die Auferstehung in der Welt jenseits des Grabes der geistliche Himmel. Das Gebet „O komm, Herr Jesus!” hat dort eine uns unbekannte Macht.
Wenn im Sterben der Tod für uns zur schrecklichsten Wirklichkeit wird, so verliert er hinter dieser Schwelle seine Gewalt. Davon spricht der heilige Johannes Chrysostomos in seinem Osterwort: „Keiner fürchte den Tod, denn des Heilandes Tod hat uns befreit… Auferstanden ist Christus, und das Leben lebt…”.
(Erzpriester Sergij Bulgakov)
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