Website-Icon † Deutschsprachige russisch-orthodoxe Kirchengemeinde in Hamburg

ÜBER DIE WÜRDE DES CHRISTENTUMS

und die Unwürdigkeit der Christen

 

Giovanni Boccaccio, erzählt die Geschichte eines Juden, den ein befreundeter Christ zum Christentum bekehren wollte. Der Jude war geneigt, das Christentum anzunehmen, aber um sich endgültig zu entscheiden, wollte er nach Rom reisen, um das Verhalten des Papstes und der Kardinäle zu beobachten, um zu sehen, wie die Menschen leben, die an der Spitze der Kirche stehen. Der Christ, der den Juden bekehrt hatte, war erschrocken und beschloss, dass alle seine Bemühungen umsonst gewesen seien, denn der Jude würde sich sicher nicht taufen lassen wollen, nachdem er all die Schandtaten gesehen hatte, die in Rom begangen wurden. Der Jude ging hin und sah die Heuchelei, die Unreinheit, die Völlerei und den Egoismus, die damals unter den römischen Klerikern am päpstlichen Hof herrschten. Das Ergebnis dieses Prozesses war unerwartet. Der Jude kehrte zurück, und sein christlicher Freund fragte ihn ängstlich nach seinen Eindrücken von Rom. Die Antwort war unerwartet und sehr tiefgründig. – Wenn der christliche Glaube all dem Hässlichen und Schrecklichen, das er in Rom gesehen hatte, widerstehen konnte, wenn er trotz allem gestärkt und verbreitet wurde, dann war es der wahre Glaube. – Der Jude war schliesslich Christ geworden.

   Was auch immer Boccaccio gemeint haben mag, die Geschichte zeigt den wahren Weg zur Verteidigung des Christentums. Der größte Einwand gegen das Christentum sind die Christen selbst. Die Christen führen diejenigen, in Versuchung die zum christlichen Glauben den Weg finden wollen. Dieses Argument gegen das Christentum wird besonders in unserer Zeit missbraucht. In unserem Zeitalter des Kleinglaubens, Zeitalter des verbreiteten Unglaubens, wird das Christentum anhand der Christen beurteilt. In früheren Zeiten, in Zeiten des Glaubens, wurde das Christentum in erster Linie nach seiner ewigen Wahrheit, seiner Lehre, seinen Geboten beurteilt. Doch unsere Zeit ist zu sehr mit Menschen und menschlichen Dingen beschäftigt. Schlechte Christen haben das Christentum verdunkelt. Die schlechten Taten der Christen, ihre Verzerrung des Christentums, ihre Gewalt sind wichtiger als das Christentum selbst, auffälliger als die große Wahrheit des Christentums. Und viele Menschen unseres Jahrhunderts fangen an, das Christentum selbst nach den Christen beurteilen, nach Christen, nicht echten, äußerlichen, degenerierten. Das Christentum ist eine Religion der Liebe, jedoch es wird nach der Bosheit und dem Hass der Christen beurteilt. Das Christentum ist eine Religion der Freiheit, jedoch es wird nach der Gewalt, die Christen in der Geschichte begangen haben beurteilt. Christen kompromittieren das Christentum und führen die suchenden nach Warheit in Versuchung.

   Oft wird darauf hingewiesen, dass die Vertreter anderer Religionen – Buddhisten, Mohammedaner, Juden – besser seien als die Christen, dass sie die Gebote ihrer Religion besser erfüllten. Man verweist auch auf die gänzlich Ungläubigen, sogar auf die Atheisten und Materialisten, die oft besser seien als die Christen, idealistischer im Leben, opferbereiter. Doch die ganze Unwürdigkeit, die ganze Niedrigkeit vieler Christen besteht darin, dass sie die Gebote des Christentums nicht erfüllen, dass sie sie verändern und pervertieren. Die Niedrigkeit der Christen wird an der Höhe des Christentums gemessen, an ihrer Unvereinbarkeit mit dieser Höhe. Wie kann das Christentum wegen der Unwürdigkeit der Christen verurteilt werden, wenn die Christen selbst verurteilt werden, weil sie der Würde des Christentums nicht entsprechen! In einem solchen Urteil liegt ein offensichtlicher Widerspruch. Wenn die Anhänger anderer Religionen oft besser sind als die Christen, besser darin, die Gebote ihrer Religion zu erfüllen, dann gerade deshalb, weil die Gebote anderer Religionen leichter zu erfüllen sind, weil das Christentum eine außergewöhnliche Höhe hat. Es ist leichter, Mohammedaner als Christ zu sein. Und wenn ein Christ so ist wie der Mohammedaner, der dem Christen als Vorbild dient, dann ist er ein sehr schlechter Christ, der die Gebote Christi nicht erfüllt. Das Schwierigste im Leben ist die Religion der Liebe, doch das macht die Religion der Liebe selbst nicht weniger hoch und wahr. Es ist nicht die Schuld des Christentums, dass seine Wahrheit nicht erfüllt und ins Leben umgesetzt wird. Es ist nicht die Schuld Christi, dass seine Bündnisse mit Füßen getreten werden. Jüdische Gläubige, die sich zu ihrem Glauben bekennen, weisen gerne darauf hin, dass der große Vorteil der jüdischen Religion in der Durchsetzbarkeit ihrer Gebote liege. Die jüdische Religion ist der menschlichen Natur besser angepasst, praktikabler, besser für die Zwecke des irdischen Lebens geeignet und erfordert weniger Opfer.

   Die christliche Religion ist die schwierigste, die unpraktischste, die der menschlichen Natur am meisten widersprechende, die am meisten unmögliche Opfer fordernde. Die Vertreter der jüdischen Religion halten das Christentum für eine Traumreligion, für lebensuntauglich und daher schädlich. Wir messen die moralischen Tugenden der Menschen oft an ihrem Glauben und an ihren Idealen. Erweist sich ein Materialist in seiner Weltanschauung als ein guter Mensch, der seiner Idee treu ist, der für sie Opfer zu bringen vermag, so beeindruckt er schon durch seine Größe und wird als Vorbild hingestellt. Gleichzeitig ist es für einen Christen ungeheuer schwer, auf der Höhe seines Glaubens, seines Ideals zu stehen, denn er muss seine Feinde lieben, sein Kreuz tragen, er muss den Versuchungen der Welt heldenhaft widerstehen, was weder ein gläubiger Jude, noch ein Mohammedaner, noch ein Materialist tun muss. Das Christentum lenkt unser Leben auf die Linie des größten Widerstandes; das Leben des Christen ist Selbstkreuzigung.

II

    Man sagt oft, das Christentum sei gescheitert, es habe sich im geschichtlichen Leben nicht durchgesetzt. Und das gilt als Argument gegen das Christentum. Es sind nicht nur die Christen, die das Christentum kompromittieren, sondern es ist die Geschichte des Christentums, die Geschichte der Kirche, die das Christentum kompromittiert. Und es ist wahr, dass die Lektüre von Büchern über die Geschichte der Kirche für den Ungläubigen sehr verlockend sein kann, denn diese Bücher erzählen vom Kampf der menschlichen Leidenschaften und Interessen in der christlichen Welt, von der Verdrehung und Verzerrung der christlichen Wahrheit in den Köpfen der sündigen Menschheit, sie stellen die Geschichte des kirchlichen Lebens oft sehr ähnlich dar wie die Geschichte von Staaten, diplomatischen Beziehungen, Kriegen usw. Die äußere Geschichte des kirchlichen Lebens ist leicht zu sehen, leicht zu beschreiben und kann in einer Form erzählt werden, die allen verstendlich ist. Das innere geistliche Leben der Kirche, die Bekehrung der Menschen zu Gott, die Erlangung der Heiligkeit, ist weniger sichtbar und schwerer zu erzählen, es bleibt gleichsam hinter der äußeren Geschichte verborgen, wird von ihr verdrängt. Die Menschen nehmen das Böse leichter wahr als das Gute, sie sind empfänglicher für das Äußere des Lebens als für das Innere. Wir erfahren leicht etwas über die Menschen von außen, wie sie Handel treiben oder Politik machen, wie sie sich in der Familie oder in der Gesellschaft verhalten. Jedoch denken wir viel darüber nach, wie die Menschen zu Gott beten, wie sich ihr inneres geistliches Leben vollzieht, ihr geistlicher Kampf mit ihrer sündigen Natur, wie sie sich der göttlichen Welt zuwenden? Oft wissen wir nichts davon und ahnen nicht einmal, dass es ein geistliches Leben bei den Menschen gibt, denen wir begegnen, oder wir wissen es nur von Menschen, die uns nahe stehen, die wir lieben und denen wir besondere Aufmerksamkeit schenken. Im äußeren Leben, das allen offensteht, können wir leicht das Wirken der sündigen Leidenschaften entdecken. Doch welche Kämpfe des Geistes hinter diesem äußeren Leben stehen, welches Streben nach Gott, welches schmerzhafte Bemühen, die Wahrheit Christi zu erkennen, kennen wir nicht oder wollen wir nicht erkennen. Wir sollen unsere Nächsten nicht verurteilen, trotzdem wir beurteilen sie ständig nach ihren äußeren Taten, nach ihrem Gesichtsausdruck, ohne in ihr inneres Leben zu blicken.

    Dabei darf die Geschichte der christlichen Menschheit nicht nach äußeren Taten beurteilt werden, nach menschlichen Sünden und Leidenschaften, die das Bild des Christentums verzerren. Wir müssen uns immer daran erinnern, was die christlichen Völker in ihrer Geschichte zu überwinden hatten, mit welcher schmerzlichen Mühe sie ihre alte sündige Natur, ihr Urheidentum, ihre alte Barbarei, ihre halbwilden Instinkte überwinden mußten. Das Christentum mußte die Materie bearbeiten, die dem christlichen Geist furchtbaren Widerstand entgegensetzte. Es mußte diejenigen zur Religion der Liebe erziehen, die voller Instinkte der Gewalt und Grausamkeit waren. Christus kam, um die Kranken zu retten, nicht die Gesunden, die Sünder, nicht die Gerechten. Und die menschliche Rasse, die das Christentum angenommen hat, ist eine kranke und sündige Rasse. Die Kirche Christi ist nicht zu einer äußeren Organisation des Lebens oder zu einem äußeren, gewaltsamen Sieg über das Böse berufen. Sie erwartet eine innere, geistige Wiedergeburt, die aus dem Zusammenspiel von menschlicher Freiheit und göttlicher Gnade entsteht. Das Christentum ist von Natur aus nicht in der Lage, das radikal Böse der menschlichen Natur gewaltsam zu zerstören; es erkennt die menschliche Freiheit an. Materialisten-Sozialisten sagen besonders gern, das Christentum sei gescheitert, habe das Reich Gottes auf Erden nicht verwirklicht. Zweitausend Jahre sind vergangen, seit der Erlöser und Retter der Welt in die Welt gekommen ist, und dennoch existiert das Böse weiterhin in der Welt und hat sogar zugenommen, die Welt windet sich in Agonie, die Leiden des Lebens haben sich nicht im Geringsten dadurch verringert, dass die Erlösung vollbracht wurde. Die materialistischen Sozialisten versprechen, ohne Gott und ohne Christus das zu verwirklichen, was das Christentum nicht zu verwirklichen vermochte – die Brüderlichkeit der Menschen, die Wahrheit im sozialen Leben, den Frieden, das Reich Gottes auf Erden (und Menschen, die nicht an Gott glauben, verwenden manchmal gerne den Ausdruck “das Reich Gottes auf Erden”!). Die einzige Erfahrung mit der Verwirklichung des materialistischen Sozialismus, die wir kennen, die russische Erfahrung, bestätigt diese Behauptung nicht. Allerdings wird diese Frage dadurch nicht prinzipiell geklärt. Das Versprechen des materialistischen Sozialismus, die Wahrheit auf Erden zu verwirklichen, das Böse und das Leid zu beseitigen, beruht auf der Tatsache, dass diese Verwirklichung nicht durch die Freiheit des Menschen, sondern durch Gewalt gegen die Freiheit des Menschen, durch eine äußere, zwanghafte gesellschaftliche Organisation, die das Böse äußerlich unmöglich machen muss, durch gesellschaftlichen Zwang der Menschen zur Tugend, zum Guten und zur Wahrheit erfolgen wird. Das ist der große Unterschied zum Christentum.

   Das sogenannte “Scheitern des Christentums in der Geschichte” ist ein Scheitern, das mit der menschlichen Freiheit zusammenhängt, mit dem Widerstand der menschlichen Freiheit gegen die Wahrheit Christi, mit dem Widerstand des bösen Willens, den die christliche Religion nicht für möglich hält, äußerlich zu zügeln und zum Guten zu zwingen, und nicht will, weil die christliche Wahrheit selbst die Freiheit voraussetzt und einen inneren, geistigen Sieg über das Böse erwartet. Der Staat kann äußerlich und gewaltsam der Manifestation des bösen Willens eine Grenze setzen, und er ist dazu berufen, doch auf diese Weise wird das innere Böse und die Sünde nicht besiegt. Eine solche Frage gibt es für den materialistischen Sozialismus nicht, denn es gibt die eigentliche Frage des Bösen und der Sünde, des inneren Geisteslebens, nicht, denn es gibt nur die Frage des Leidens und der sozialen Ungerechtigkeit, der äußeren gesellschaftlichen Organisation des Lebens.

   Gott will keine Gewalt, will nicht den äußeren Triumph der Wahrheit, will die Freiheit des Menschen. Deshalb könnte man sagen, dass Gott das Böse duldet, es nicht gewaltsam vernichtet, sondern das Böse nur für die Zwecke des Guten einsetzt. Es ist die Wahrheit Christi, die nicht gewaltsam verwirklicht werden kann. Der Kommunismus will seine Wahrheit mit Gewalt verwirklichen, er leugnet die Freiheit des Geistes, weil er den Geist leugnet, und deshalb ist es für ihn leichter, diese Wahrheit zu verwirklichen. Deshalb ist das Argument gegen das Christentum, das sich auf das Scheitern des Christentums in der Geschichte stützt, unhaltbar. Das Reich Gottes kann nicht erzwungen werden, kann nicht verwirklicht werden ohne geistige Wiedergeburt, die immer die Freiheit des Geistes voraussetzt. Das Christentum ist die Religion des Kreuzes, es erkennt die Bedeutung des Leidens an. Christus ruft uns auf, unser Kreuz auf sich zu nehmen und es zu tragen, die Lasten einer sündigen Welt zu tragen. Die Verwirklichung des Reiches Gottes auf Erden, des irdischen Glücks und der irdischen Gerechtigkeit ohne das Kreuz und das Leiden ist eine große Lüge für das christliche Bewusstsein, sie ist eine der Versuchungen, die Christus in der Wüste zurückgewiesen hat, als ihm das Reich dieser Welt gezeigt wurde und er aufgefordert wurde, es anzubeten. Das Christentum verspricht keineswegs seine notwendige Erfüllung und seinen Triumph auf Erden. Christus bezweifelt sogar, dass der Glaube auf Erden zu finden sein wird, wenn er am Ende der Zeiten kommt, und er prophezeit den Niedergang der Liebe. Leo Tolstoi glaubte, es sei leicht, die Gebote Christi zu erfüllen, es genüge, ihre Wahrheit zu erkennen. Nun das war ein Irrtum seines allzu rationalen Bewusstseins, dem sowohl das Geheimnis der Freiheit als auch das Geheimnis der Gnade verschlossen war, ein Optimismus, der dem tiefen Ernst und der Tragik des Lebens widersprach. Der Apostel Paulus sagt “Denn ich tue nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht will, das verübe ich. 20 Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, so vollbringe nicht mehr ich es, sondern die Sünde, die in mir wohnt.” (Röm 7,19-20). Das ist das Zeugnis des größten aller Christen, das uns die Tiefe des menschlichen Herzens offenbart. Daran erkennen wir, dass das “Scheitern des Christentums” ein menschliches Versagen ist, nicht ein Versagen Gottes.

III

   Die christliche Menschheit hat in ihrer Geschichte einen dreifachen Verrat am Christentum begangen. Zuerst hat sie das Christentum pervertiert und schlecht umgesetzt, dann ist sie ganz vom Christentum abgefallen, und schließlich, was die größte Niedertracht war, hat sie begonnen, das Christentum für die schlechten Dinge zu verfluchen, die sie selbst in der christlichen Geschichte getan hat. Wenn sie kritisieren dann kritisieren sie die Sünden und Laster der christlichen Menschheit,  die Perversion und Nichterfüllung der Wahrheit Christi durch den Menschen. Wegen dieser menschlichen Sünden, Laster und Perversionen sind sie vom Christentum abgefallen. Derselbe Mensch pervertiert das Christentum und rebelliert dann gegen diese Perversion wie gegen das Christentum selbst. In den Worten Christi, in den Bündnissen Christi, in der Heiligen Schrift und der Heiligen Überlieferung, in der Lehre der Kirche, im Leben der Heiligen wird man all das nicht finden, was die Kritiker des Christentums beanstanden. Man muss Idealprinzip mit Idealprinzip, reale Tatsache mit realer Tatsache vergleichen. Man kann den Kommunismus verteidigen, indem man darauf hinweist, dass er in der Praxis schlecht umgesetzt und pervertiert worden ist, so wie das Christentum in der Praxis sehr schlecht umgesetzt und pervertiert worden ist. Die Kommunisten haben Blut vergossen, vergewaltigt und gelogen, um ihre Ziele zu erreichen. Jedoch auch Christen haben viel Blut vergossen, vergewaltigt und gelogen, um ihre Ziele zu erreichen. Es wäre jedoch ein offensichtlicher Fehler, Kommunismus und Christentum auf dieser Grundlage gleichzusetzen.

   Im Evangelium, in den Geboten Christi, in den Lehren der Kirche, in den Bildern der Heiligen, in den vollkommenen Verwirklichungen des Christentums finden Sie die frohe Botschaft vom Kommen des Reiches Gottes, den Aufruf zur Liebe, zur Sanftmut, zur Selbstaufopferung, zum Dienst am Nächsten, zur Reinheit des Herzens, und Sie werden keine Aufrufe zur Gewalt, zur Bosheit, zur Rache, zum Haß, zum Eigennutz finden. Bei Marx, der den Kommunismus inspiriert hat, finden Sie in seiner Theorie, in seiner Ideologie, Aufrufe zur Gewalt, zum bösartigen Hass einer Klasse gegen eine andere, zur Rache, zum Eigennutz, und Sie werden nichts finden von Liebe, Selbstaufopferung, Sanftmut, geistiger Reinheit. Christen haben in der Geschichte vergewaltigt, verleumdet, gerächt und selbstsüchtig gehandelt. Sie haben sich oft mit dem Namen Christi bedeckt, aber sie haben nie die Bündnisse Christi erfüllt. Die Gegner des Christentums weisen gerne darauf hin, dass Christen so oft zu blutiger Gewalt gegriffen haben, um den christlichen Glauben zu verteidigen und zu verbreiten. Diese Tatsache ist an sich unbestreitbar, aber sie beweist nur, dass die Christen voller Leidenschaften waren, dass ihre Natur nicht erleuchtet war, dass sie durch ihre Sündhaftigkeit das Rechteste und Heiligste entstellten und nicht erkannten, wes Geistes Kind sie waren. Als Petrus, der Jesus verteidigen wollte, sein Schwert zog, den Diener des Hohenpriesters schlug und ihm ein Ohr abschlug, sagte Jesus: “Stecke dein Schwert an seinen Platz zurück; denn alle, die zum Schwert greifen, werden durch das Schwert umkommen” (Mt 26,51-52).

   Die göttliche Wahrheit des Christentums wird von den Menschen wahrgenommen, sie wird in der sündigen Natur des Menschen, in seinem begrenzten Bewusstsein gebrochen. Die christliche Offenbarung und das christliche religiöse Leben setzen, wie jede Offenbarung und jedes religiöse Leben, nicht nur die Existenz Gottes, sondern auch die Existenz des Menschen voraus. So wird der Mensch zwar durch das Licht der Gnade, das von Gott kommt, erleuchtet, doch gerade das Licht Gottes nimmt je nach der Struktur seines geistigen Auges die Grenzen seiner Natur, seines Bewusstseins, für die göttliche Offenbarung in Anspruch.

Gott hat sich dem jüdischen Volk offenbart, und die Bibel erzählt uns davon. Allerdings sind der Zorn, die Wut, die Eifersucht und die Rache, die Gott-Jahwe in der Bibel an den Tag legt, keine Eigenschaften Gottes, die seinem inneren Wesen entsprechen, sondern sie sind nur ein Abbild Gottes, das in dem Bewusstsein des jüdischen Volkes gebrochen wurde, eine Art der Wahrnehmung Gottes durch ein Volk, das so sehr von Zorn, Wut, Eifersucht und Rache geprägt war. Die christliche Wahrheit wurde von den Menschen nicht nur begrenzt wahrgenommen, sondern auch pervertiert. Sie pervertierten die Lehre von Gott, den man sich oft als orientalischen Despoten, als autokratischen Monarchen vorstellte, und die Lehre von der Erlösung, die man sich als Lösung eines Gerichtsverfahrens vorstellte, das ein beleidigter und zorniger Gott gegen den Menschen angestrengt hatte, weil er seinen Willen übertreten hatte. Und dieses pervertierte, menschlich begrenzte Verständnis der christlichen Lehren führte zum Abfall vom Christentum. Auch das Konzept der Kirche selbst wurde pervertiert. Man verstand die Kirche äußerlich, identifizierte sie mit der Hierarchie, mit dem Ritual, mit den Sünden der christlichen Gemeindemitglieder, sah sie in erster Linie als Institution.

   Ein tieferes und inneres Verständnis der Kirche als spiritueller Organismus, als mystischer Leib Christi (Definition des Apostels Paulus) wurde in den Hintergrund gedrängt und war nur wenigen zugänglich. Die Liturgie, das Sakrament, wurde als äußerer Ritus wahrgenommen und wie ein Ritus behandelt. Der tiefe, geheimnisvolle Sinn der Liturgie blieb den äußeren Christen verborgen. Deshalb traten sie leicht aus der Kirche aus, in Versuchung durch die Laster des Klerus, die Unzulänglichkeiten der kirchlichen Institutionen, die zu sehr den staatlichen Institutionen ähnelten, die äußerliche Einstellung zum Glauben der Gemeindemitglieder und die Heuchelei der ostentativen Frömmigkeit. Wir müssen uns immer daran erinnern, dass es in der Kirche eine göttliche und eine menschliche Seite gibt, dass das Leben der Kirche göttlich-menschliches Leben ist, das Zusammenwirken von Gottheit und Menschheit. Das göttliche Fundament der Kirche ist ewig und unfehlbar, heilig und rein, es kann nicht verfälscht werden, und die Pforten der Hölle werden es nicht überwältigen. Die göttliche Seite der Kirche ist Christus selbst, das Haupt der Kirche, die Sittenlehre des Evangeliums, die Grundprinzipien unseres Glaubens und die Dogmen der Kirche, die Sakramente, das Wirken der Gnade des Heiligen Geistes in der Kirche. Jedoch die menschliche Seite der Kirche ist fehlbar und wandelbar; es kann in ihr, in der kirchlichen Menschheit selbst, Perversion, Krankheit, Verfall, Erstarrung geben, ebenso wie es schöpferische Bewegung, Entwicklung, Bereicherung, Erweckung geben kann. Die Sünden des kirchlichen Menschen und der kirchlichen Hierarchie sind nicht Sünden der Kirche in ihrem göttlichen Wesen, noch mindern sie in irgendeiner Weise die Heiligkeit der Kirche selbst. Das Christentum widersteht der menschlichen Natur, indem es ihre Erleuchtung und Verwandlung fordert, und die menschliche Natur widersteht dem Christentum, indem sie es zu entstellen sucht. Es gibt einen ständigen Kampf zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen, in dem das Göttliche das Menschliche erleuchtet oder das Menschliche das Göttliche entstellt. Das Christentum erhebt den Menschen und stellt ihn ins Zentrum der Welt. Der Gottessohn wurde Mensch, ist menschlich geworden und hat dadurch die menschliche Natur geweiht. Das Christentum zeigt dem Menschen den höheren Sinn des Lebens, spricht von dem höheren Ursprung des Menschen und seiner höchsten Bestimmung. Doch das Christentum schmeichelt im Gegensatz zu vielen anderen Lehren nicht der menschlichen Natur in ihrem sündigen, gefallenen Zustand; es verlangt vom Menschen heldenhafte Selbstüberwindung.

   Die menschliche Natur, die mit der Erbsünde behaftet ist, ist sehr klein in ihrem Fassungsvermögen. Sie kann die göttliche Wahrheit des Christentums kaum aufnehmen, sie kann die göttlich-menschliche Wahrheit, die durch das Erscheinen des Gottmenschen Christus verkündet wird, kaum verstehen. Christus lehrt uns, Gott zu lieben und unseren Nächsten, den Menschen, zu lieben. Die Liebe zu Gott und die Liebe zum Menschen, zum lebendigen Lebewesen, sind untrennbar miteinander verbunden – durch Gott, durch den einen Vater, lieben wir unsere Nächsten, unsere Brüder, und durch die Liebe zu unseren Brüdern, zu unseren Nächsten, wird uns auch die Liebe zu Gott offenbart. “Wenn wir einander lieben, bleibt Gott in uns, und seine Liebe wird in uns vollkommen” (1 Joh 4,12). Christus war der Sohn Gottes und der Sohn des Menschen, und er hat uns die vollkommene Vereinigung von Gott und Mensch offenbart, er hat die Menschlichkeit Gottes und die Göttlichkeit des Menschen offenbart. Aber der natürliche Mensch hat Schwierigkeiten, diese Fülle der gottmenschlichen Liebe wahrzunehmen.

Er nimmt die Wahrheit in Bruchstücken, in Windungen und Wendungen wahr. Er wendet sich Gott zu und wendet sich vom Menschen ab, er ist bereit, Gott zu lieben, jedoch dem Menschen begegnet er mit Abneigung, mit Gleichgültigkeit, mit Grausamkeit. So war es im Mittelalter. Dann wendet er sich dem Menschen zu, ist bereit, den Menschen zu lieben und ihm zu dienen, wendet sich dabei von Gott ab und hegt Feindschaft gegen die Idee Gottes als schädlich und gegen das Wohl der Menschen. So war es auch in der Neuzeit, im Humanismus, im humanistischen Sozialismus. Und weil man die gottmenschliche Wahrheit zerrissen hat, weil man die Liebe zum Menschen von der Liebe zu Gott getrennt hat, greift man das Christentum an, wirft dem Christentum vor, was man selbst schuldig ist.

IV

Die Intoleranz, Bigotterie und Grausamkeit, die Christen in der Geschichte oft an den Tag gelegt haben, war das Ergebnis der Unfähigkeit der menschlichen Natur, die Fülle der christlichen Wahrheit der Liebe und Freiheit aufzunehmen. Der Mensch hat sich einen Teil der christlichen Wahrheit angeeignet und ist davon besessen, während die Fülle der Wahrheit, die Fülle des Lichts, nur einigen wenigen zugänglich war. Der Mensch hat die Fähigkeit, alles zu verzerren, auch die höchste Wahrheit, und sie zu einem Instrument seiner Leidenschaften zu machen. Selbst die Apostel, die dem göttlichen Meister selbst nahe waren, in den Lichtstrahlen, die von Seiner Person ausgingen, haben das Christentum entstellt, die Wahrheit Christi zu leidenschaftlich, zu menschlich verstanden und überall die Grenzen ihrer jüdischen Weltanschauung eingeführt.

Wenn man das Christentum des Mittelalters angreift und dem christlichen Glauben die Feuer der Inquisitionen, die Gewalt gegen das Gewissen, Bigotterie und Intoleranz sowie Grausamkeit gegen den Menschen vorwirft, ist die Frage falsch gestellt, und man versteht meist nicht mit ausreichender Klarheit, was gesagt wird. Ein Angriff auf das mittelalterliche Christentum, der sich auf die Feststellung unzweifelhafter, wenn auch manchmal übertriebener Tatsachen stützt, ist überhaupt kein Angriff auf das Christentum, sondern ein Angriff auf die Menschen des Mittelalters, auf die Christen, und nicht auf das Christentum.

Der Mensch greift sich letztlich selbst an. Der mittelalterliche Katholizismus war von einem falschen theokratischen Prinzip geprägt, demzufolge die Kirche dem Staat zu ähnlich war und den Päpsten die Macht über die Welt zugesprochen wurde. Für die Grausamkeit und Intoleranz des Mittelalters war jedoch nicht die katholische Kirche verantwortlich, sondern die barbarische Natur des Menschen. Die Welt des Mittelalters war eine barbarische Welt voller grausamer und blutrünstiger Instinkte. Die Kirche versuchte, diese barbarische, zur Anarchie neigende Welt zu ordnen, ihre brutalen Instinkte zu mildern, sie zu christianisieren. Leider das ist der Kirche immer nur teilweise gelungen, zu groß war der Widerstand der unaufgeklärten menschlichen Natur.

Die mittelalterliche Welt galt zwar formal als christlich, war allerdings im Grunde halb christlich, halb heidnisch. Dies war nicht die Schuld des Christentums, das die Welt nicht zwangsweise christlich machen konnte. Die kirchliche Hierarchie selbst war sündig, brachte menschliche Leidenschaften in das Leben der Kirche ein, war machthungrig und verdrehte oft die Wahrheit Christi. Dennoch auch hier lag die Schuld nicht bei der Wahrheit Christi selbst, sondern bei den Christen, nicht beim Christentum. Der göttliche Grund der Kirche blieb unversehrt, von Menschen unverfälscht und für Menschen erhellend. Die Stimme des Evangeliums Christi ertönte in ihrer alten Reinheit. Ohne die Kirche, ohne das Christentum wäre die barbarische und grausame Welt des Mittelalters in Blut erstickt, wäre die geistige Kultur völlig untergegangen. Immerhin wurde die antike, griechisch-römische Kultur in ihren höchsten Errungenschaften durch die Kirche bewahrt und in die neue Zeit überliefert. Die einzigen Gelehrten, Philosophen und Kulturschaffenden des Mittelalters waren die Mönche. Dank des Christentums konnte sich ein Rittertypus herausbilden, in dem Barbarei und Grobheit gemildert und veredelt wurden. Und die natürliche Barbarei des mittelalterlichen Menschen war manchmal besser als die Mechanik des modernen zivilisierten Menschen.

Das gilt auch für die katholische Kirche, auch wenn es aus orthodoxer Sicht Fehler und Perversionen in der Organisation der Kirche selbst und in der theologischen Lehre gegeben hat. Die orthodoxe Kirche kannte die Inquisition nicht, kannte diese Art von Gewalt in Glaubens- und Gewissensfragen nicht, und Fanatismus war ihr nicht eigen. Unsere Gewalt ging vor allem von der Staatsmacht aus. Und die historische Sünde der orthodoxen Kirche (auf ihrer menschlichen Seite) bestand darin, dass sie sich der Staatsmacht zu sehr unterordnete. Menschliche Sünden und Perversionen gab es sowohl in der katholischen als auch in der orthodoxen Kirche. Auf jeden Fall die Unzulänglichkeiten des Christentums in der Welt waren immer die Unzulänglichkeiten der Christen; die Unzulänglichkeiten waren menschlich, nicht göttlich; das Versagen des Christentums war ein Versagen des Menschen, nicht Gottes. Wenn man die Wahrheit nicht erkennt, wenn man die Wahrheit verdreht, dann ist man selbst schuld, nicht die Wahrheit.

Die Menschen fordern Freiheit für sich, sie wollen nicht zum Guten gezwungen werden. Sie machen Gott verantwortlich für die Folgen der großen Freiheit, die Gott ihnen gegeben hat. Wer ist schuld daran, dass das menschliche Leben voller Übel ist? Ist es das Christentum, ist es Christus? Christus hat nie das gelehrt, wofür das Christentum kritisiert, missbilligt und abgelehnt wird. Wenn die Menschen dem folgen würden, was Christus lehrt, gäbe es im Christentum nicht die Dinge, für die das Christentum angefeindet wird.

Garbert Wales hat irgendwo einen Dialog zwischen den Menschen und Gott. Die Menschen beschweren sich bei Gott, dass das Leben voller Übel und Leid, Kriege, Gewalt usw. ist, dass es unerträglich wird. Gott antwortet den Menschen: Das gefällt dir nicht, also tu es nicht. Dieses erstaunlich einfache Gespräch ist sehr lehrreich. Das Christentum existiert in der Welt mit schrecklichem Widerstand der Mächte des Bösen, es bewegt sich in einem dunklen Element. Nicht nur das menschliche Böse, sondern auch das übermenschliche Böse widersetzt sich dem Christentum. Gegen Christus und seine Kirche erheben sich die Mächte der Hölle. Und diese Mächte der Hölle wirken nicht nur außerhalb der Kirche und des Christentums, sondern auch innerhalb der Kirche und des Christentums, um die Kirche zu verderben und das Christentum zu pervertieren.

Der Greuel der Verwüstung befindet sich an einem heiligen Ort, doch dadurch wird er nicht weniger heilig, sondern er leuchtet sogar noch heller. Wenn die Menschen geistig sehend wären, würden sie wahrscheinlich erkennen, dass sie Christus kreuzigen, indem sie das Christentum pervertieren, das Christentum betrügen und das Christentum für die schlechten Dinge verfluchen, an denen das Christentum nicht schuldig ist. Christus vergießt auf ewig sein Blut für die Sünden der Welt, für die Sünden derer, die ihn ablehnen und kreuzigen. Die Wahrheit kann nicht von Menschen beurteilt werden, auch nicht von den schlechtesten Menschen. Man muss der Wahrheit ins Gesicht schauen und das Licht sehen, das von ihr ausgeht. Das Christentum sollte von den Aposteln und Märtyrern, den Asketen und Heiligen beurteilt werden und nicht von der großen Masse der Halbchristen und Halbheiden, die alles tun, um das Bild des Christentums in der Welt zu entstellen.

Zwei große Prüfungen wurden der christlichen Menschheit in der Welt auferlegt: die Prüfung der Verfolgung und die Prüfung des Triumphes. Die erste Prüfung, die Prüfung der Verfolgung, haben die Christen ertragen, indem sie Bilder von Märtyrern und Helden schufen. Die Christen ertrugen sie in den Anfängen des Christentums, als sie vom Römischen Reich verfolgt wurden, und sie ertragen sie auch heute, wenn die Christen verfolgt werden. Dabei ist es viel schwieriger, die Prüfung des Triumphes zu bestehen. Als Kaiser Konstantin sich vor dem Kreuz verneigte und das Christentum zur herrschenden Religion, zur Staatsreligion wurde, begann eine lange Zeit der Prüfung des Triumphes. Und diese Prüfung haben die Christen nicht so gut bestanden wie die Prüfung der Verfolgung. Die Christen selbst wurden oft von Verfolgern zu Verfolgern, verführt vom Reich dieser Welt, von der Herrschaft über die Welt. Hier haben die Christen zu den Verzerrungen des Christentums beigetragen, die zum Gegenstand der Anklage gegen sie wurden. Und das Christentum ist wiederum nicht schuld daran, dass die Menschen die Freude über seinen Triumph in der Welt nicht ertragen konnten und diesen Triumph in eine Verzerrung des Bildes des Christentums selbst verwandelten. Und wieder einmal wurde Christus von denen gekreuzigt, die sich als seine Diener auf Erden betrachteten und nicht verstanden, was für ein Geist sie waren.

V

Die Menschen unserer Zeit, die dem Christentum fern stehen, meinen oft, die christliche Kirche müsse aus vollkommenen Menschen, aus Heiligen bestehen, und verurteilen die Kirche, weil es in ihr so viele sündige, unvollkommene Menschen, so viele schlechte Christen gibt.Allerdings das ist ein Missverständnis des Wesens der Kirche, das ihr Wesen vergisst. Die Kirche ist in erster Linie für die Sünder da, für die Unvollkommenen, für die Verlorenen. Die Kirche steigt immer in die sündige Welt hinab und wirkt unter den in Sünde versunkenen Elementen der Welt. Die Kirche ist in ihrem Ursprung himmlisch und in ihrer Grundlage ewig, aber sie wirkt auf Erden und in der Zeit, sie bleibt nicht in der Höhe, fern von der sündigen Welt, die sich in Qualen windet, sie muß zuerst dieser Welt helfen, sie zum ewigen Leben retten, sie zum Himmel erheben. Das Wesen des Christentums ist die Vereinigung von Ewigkeit und Zeit, von Himmel und Erde, von Göttlichem und Menschlichem, nicht die Trennung von Zeit, Erde und Menschlichem. Das Zeitliche, das Menschliche soll nicht verleugnet und verworfen, sondern erleuchtet und verwandelt werden.

In den ersten Jahrhunderten des Christentums gab es in der Kirche eine sektiererische Bewegung, den sogenannten Montanismus, der behauptete, die Kirche bestehe ausschließlich aus Vollkommenen und Heiligen, und der den Ausschluss der Sünder und Unvollkommenen aus der Kirche forderte. Für die Montanisten war die Kirche eine Gemeinschaft von Menschen, die besondere Gaben des Heiligen Geistes empfangen hatten. Die Mehrheit der sündigen Christenmenschen stand somit außerhalb der Kirche. Ein echtes kirchliches Bewusstsein verurteilte den Montanismus und bekräftigte das Verständnis der Kirche als Kirche der geretteten Sünder. Die Heiligen sind das Bollwerk und die Stütze der Kirche, aber die Kirche besteht nicht nur aus ihnen; zu ihr gehört die Menschheit auf allen Stufen der Vollkommenheit, die von der Sünde gerettete Menschheit. Die Kirche auf Erden ist die kämpfende Kirche, die gegen das Böse und die Sünde kämpft, jedoch noch nicht verherrlicht ist. Christus selbst war bei den Zöllnern und Sündern und wurde dafür von den Pharisäern verurteilt. Und die Kirche Christi muss wie Christus sein; sie kann nicht nur bei den Reinen und Vollkommenen sein, sondern muss vor allem bei den Verlorenen sein.

Ein Christentum, das nur die Reinen und Vollkommenen anerkennt, wäre durch das pharisäische Christentum. Mitgefühl, Nachsicht, Barmherzigkeit für unsere Nächsten mit all ihren Sünden und Unvollkommenheiten ist das Werk der christlichen Liebe, ist die Voraussetzung für christliche Vollkommenheit. Die Verurteilung des Christentums wegen des irdischen Schmutzes, der der Kirche auf ihrem historischen Weg anhaftet, ist Pharisäertum. Und es ist unwahrscheinlich, dass diejenigen, die es verurteilen, so rein und vollkommen sind.

Der Montanismus ist ein Beispiel für einen falschen Maximalismus im Christentum. Aber diese Art von Maximalismus offenbart seine unchristliche Natur, es ist immer ein Mangel an Liebe und geistlichem Stolz, es ist falscher Moralismus. Die Lüge des Maximalismus besteht darin, dass man maximale Forderungen nicht an sich selbst stellt, sondern an andere. Man verurteilt andere, weil sie nicht das Maximum an Reinheit, Vollkommenheit und Heiligkeit erreicht haben, während man selbst nicht daran denkt, dieses Maximum an Reinheit, Vollkommenheit und Heiligkeit zu erreichen. Diejenigen, die wirklich das Maximum an Vollkommenheit und Heiligkeit erreicht haben, urteilen normalerweise nicht über andere. Heilige und Älteste sind sehr nachsichtig mit Menschen. Höchste Ansprüche sollte man in erster Linie an sich selbst stellen, nicht an andere. Höchste Ansprüche an andere sind in der Regel Heuchelei und Pharisäertum. Das Christentum ist eine Religion der Liebe und verbindet Strenge, Härte, Maximalforderungen vor allem an sich selbst mit Nachsicht, Barmherzigkeit und Sanftmut gegenüber dem Nächsten. Wer das Christentum wegen der Sünden der Christen verurteilt, will und versucht nicht, die höchsten Ansprüche des Christentums selbst zu verwirklichen. Für die modernen Menschen sind diese Verurteilungen nur ein Vorwand, um ihre Feindschaft gegen das Christentum zum Ausdruck zu bringen und ihren Verrat am Christentum zu rechtfertigen. Sie kleiden sich in einen falschen Moralismus.

In dieser Hinsicht unterscheidet sich das Christentum sehr vom “Tolstoismus” , der ein abstrakter Moralismus ist. L.Tolstoi kritisiert das sogenannte historische Christentum radikal und scharf, und oft ist seine Kritik sogar richtig. Für Tolstoi ist das Christentum eine abstrakte Lehre, die er im Leben nicht umsetzt, die die Gebote Christi nicht erfüllt. Für ihn beschränkte sich das Christentum auf die moralischen Lehren Christi, auf die Gebote Christi, das ganze Geheimnisvolle, Mystische des Christentums war für ihn unverständlich und abstoßend. Er war der Meinung, dass alles vom wahren Bewusstsein abhänge und dass das Bewusste leicht zu erkennen sei. Wenn man sich des wahren Gesetzes des Lebens bewusst ist, des Gesetzes des Meisters des Lebens, d.h. Gottes, dann ist es leicht, ihn zu erkennen. L. Tolstoi erkannte die menschliche Freiheit nicht und fühlte nicht das Böse, das in den Tiefen der menschlichen Natur liegt. Für ihn war das Böse immer eine Folge des falschen Bewusstseins, des falschen Verständnisses des Lebens. Die Quelle des Bösen sah er im Bewusstsein, nicht im Willen, nicht in der Freiheit. Deshalb brauchte er nicht die Hilfe Gottes, nicht die Gnade, um das Böse zu überwinden, sondern nur eine Änderung des Bewusstseins.

Für L. Tolstoi war Jesus Christus nicht der Erlöser, der Retter, sondern der große Lebenslehrer, der Verkünder von Lebensregeln, von moralischen Geboten. Und L. Tolstoi glaubte, dass das Christentum leicht im Leben anzuwenden sei, dass es einfacher sei, nach dem Gesetz der Liebe zu leben als nach dem Gesetz des Hasses, wie die Welt lebt, dass es einfach, nützlich und weise sei. Christus habe uns gelehrt, keine Dummheiten zu begehen. Das Christentum wurde im Leben nicht umgesetzt, die Gebote Christi wurden nicht erfüllt, weil die falsche theologische Lehre, die alle Aufmerksamkeit auf Christus selbst lenkte und alles auf seine Erlösung, auf die Gnade Gottes setzte, dies verhinderte. Und L. Tolstoi greift das kirchliche Christentum scharf an. Er hat Recht, wenn er eine herzliche Einstellung zum Christentum fordert, wenn er die Verwirklichung der Gebote Christi im Leben verlangt, aber er irrt gewaltig, wenn er meint, dies sei leicht zu tun, es bedürfe nur des richtigen Bewusstseins, und es sei ohne Christus, den Erlöser, ohne die Gnade des Heiligen Geistes möglich. Leo Tolstoi fordert von den Menschen leicht einen Maximalismus in der Umsetzung der Gebote Gottes und verfällt einem falschen moralischen Maximalismus. Ihm selbst fiel es nicht so leicht, die Lehre, die er vertrat, im Leben umzusetzen, er konnte es bis zu seinem Tod nicht, und so verließ er erst kurz vor seinem Tod seine Familie und wurde für einige Tage zum Wanderer.

Tolstois Lehren und sein Lebensweg sind für unser Thema sehr lehrreich. Tolstoi verurteilte nicht das Christentum, das vor ihm existierte, und hielt nur sein eigenes Christentum für wahr. Er verurteilte die Mehrheit der Menschen für ihre Sittenlosigkeit, dafür, dass sie ihren Besitz nicht aufgaben, keine körperliche Arbeit verrichteten, Fleisch aßen, rauchten und so weiter. Aber er konnte diesen moralischen Maximalismus in seinem Leben nicht verwirklichen. Die Liebe wurde für ihn zu einem wohlwollenden Gesetz und zu einer Quelle der Verurteilung. Tolstoi hatte eine große kritische Wahrheit, und er sagte viel Wahres über die Sünden der christlichen Welt, die Sünden der Christen. Zu Recht prangerte er den nichtchristlichen Charakter der Gesellschaft und der Kultur an. Aber er sah nicht das Christentum selbst hinter den Christen, er übersah es wegen der Sünden, der Unvollkommenheiten, der Perversionen der Christen. Der Hochmut des Geistes hinderte ihn daran, ein innerer Christ zu werden, er nahm Christus nicht in sich auf, Christus blieb für ihn ein äußerer Lebenslehrer. Leo Tolstoi war ein genialer Mensch, und in ihm war die Suche nach der Wahrheit Gottes groß. Aber eine große Zahl von Menschen, die weder sein Genie noch seinen Durst nach der Wahrheit Gottes haben, verurteilen mit den Christen das Christentum selbst, ohne zu versuchen, irgendeine Vollkommenheit im Leben zu verwirklichen, ohne sich um den Sinn und die Rechtfertigung des Lebens zu kümmern.

VI

Es ist eine Lüge zu meinen, es sei leicht, die Gebote Christi zu erfüllen, und das Christentum sei nicht die wahre Religion, weil die Christen die Gebote ihrer Religion nicht gut erfüllt hätten. Aber es ist nicht weniger und noch mehr eine Lüge zu meinen, dass es nicht nötig sei, das Christentum in der Fülle des Lebens zu verwirklichen, dass es nicht nötig sei, nach einer Vollkommenheit zu streben, die der des himmlischen Vaters gleicht, weil die Erbsünde die Verwirklichung der Vollkommenheit ohnehin nicht zulasse. Der Christ muss in jedem Augenblick seines Lebens nach der Vollkommenheit des himmlischen Vaters, nach dem Reich Gottes streben. Das ganze Leben des Christen muß unter diesem Zeichen stehen. Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes, so wird euch alles andere zufallen. Der Wille zur Vollkommenheit, zur Wahrheit Gottes, zum Reich Gottes darf nicht mit dem Argument gelähmt werden, die menschliche Natur sei sündhaft und die Vollkommenheit auf Erden ohnehin unerreichbar. Der Mensch muss die Wahrheit Gottes erkennen, ob sie sich nun in der Fülle des Lebens verwirklicht oder nicht. Wenn auch nur sehr wenige die Wahrheit Christi erkennen, wenn auch ein Mensch sie nur in einer Stunde seines Lebens erkennt, so muss sie doch erkannt werden. Wenn es Heuchelei ist, den Menschen ständig vorzuwerfen, dass sie das Christentum und das Leben nicht verwirklichen, und das Christentum selbst zu leugnen, dann ist es nicht weniger Heuchelei, die Verwirklichung der Wahrheit Christi mit der Begründung abzulehnen, sie sei ohnehin nicht zu verwirklichen. Der wahre Weg ist das Bemühen, die Wahrheit Christi zu erkennen und das Reich Gottes zu suchen, ohne die Menschen, die uns nahe stehen, zu verurteilen.

Das Christentum ist in eine ganz neue Epoche eingetreten, in der es nicht mehr möglich sein wird, seinen Glauben äußerlich zu behandeln und sich auf zeremonielle Frömmigkeit zu beschränken, in der die Christen die Verwirklichung ihres Christseins in der Fülle des Lebens ernster nehmen müssen, in der sie ihren Glauben mit ihrer Persönlichkeit, mit ihrem Leben, mit ihrer Treue zu Christus und seinen Bündnissen, mit ihrer Liebe gegen das Böse der Welt verteidigen müssen. In unserer orthodoxen Kirche gibt es heute eine Auslese der Besten, der Aufrichtigsten, der Eifrigsten, der Aufopferndsten, der Christustreuesten, und einen Abfall derer, die nur äußerlich orthodox sind, orthodox im Alltag, ohne den Sinn ihres Glaubens und das, wozu er sie verpflichtet, zu verstehen. Man kann sagen, dass die Zeit der Vermischung des Christentums mit dem Heidentum zu Ende geht und die Zeit eines reineren Christentums anbricht. Das Christentum ist durch die Tatsache, dass es die herrschende Staatsreligion war, sehr verzerrt worden, und die Kirche ist durch das Schwert des Cäsar verführt worden, mit dem sie Gewalt gegen diejenigen ausgeübt hat, die einen anderen Glauben als die Herrschenden hatten. So hörte das Christentum in den Köpfen vieler Menschen auf, die Religion des Kreuzes zu sein, und das Bild des Verfolgers, nicht des Verfolgten, verband sich mit dem Christentum. Das Christentum wurde von zu vielen als eine Heiligung des heidnischen Lebens ohne wirkliche Erleuchtung und Verwandlung akzeptiert. Aber jetzt gibt es Zeiten, in denen das Christentum wieder verfolgt wird und deshalb mehr Heldentum und Opferliebe von den Christen verlangt wird, mehr Ganzheitlichkeit und Gewissenhaftigkeit im Bekenntnis ihres Glaubens. Es wird die Zeit kommen, in der die Christen aufhören werden, eine Versuchung auf dem Weg zum Christentum zu sein.

VII.

Der christliche Glaube ruft uns auf, vor allem das Reich Gottes und die göttliche Vollkommenheit zu suchen. Jedoch dem christlichen Glauben sind Träumereien und Utopien fremd, dem falschen Maximalismus ist er fremd. Das Christentum ist realistisch, und die heiligen Väter haben immer zu geistiger Nüchternheit aufgerufen. Das christliche Bewusstsein sieht alle Schwierigkeiten, die einem vollkommenen Leben im Wege stehen, es weiß, dass das Reich Gottes mit Mühe zu erreichen ist. Das Christentum ruft uns in erster Linie dazu auf, immer von innen nach außen zu gehen, nicht von außeren nach inneren. Kein äußerer, gewaltsamer Weg kann zu einem vollkommenen Leben des persönlichen und sozialen Lebens führen. Eine innere geistige Wiedergeburt ist notwendig. Innere geistige Wiedergeburt ist eine Sache der Freiheit und der Gnade, niemals der Notwendigkeit und des Zwanges. Vollkommene Christen und eine vollkommene christliche Gesellschaft können nicht auf irgendeine erzwungene Weise geschaffen werden. Es muss eine echte, wirkliche Veränderung in den Seelen der Menschen und der Nationen stattfinden. Aus der Tatsache, dass Menschen den Namen Christ tragen, sogar aus der Tatsache, dass sie den christlichen Glauben bekennen, folgt nicht, dass sie ein vollkommenes Leben erreicht haben. Die Verwirklichung der christlichen Vollkommenheit im Leben ist eine endlose und schwierige Aufgabe. Nur wenige Asketen erklimmen den Gipfel des vollkommenen christlichen Lebens.

Die Ablehnung des Christentums, die sich auf die Unvollkommenheit und die schlechten Eigenschaften der Christen gründet, ist im wesentlichen Unkenntnis und Unverständnis der Erbsünde. Für diejenigen, die sich der Erbsünde bewusst sind, ist klar, dass die Unwürdigkeit der Christen die Würde des Christentums nur bestätigen und nicht leugnen kann. Das Christentum ist die Religion der Erlösung und der Errettung von der Sünde; das Christentum verkündet die Wahrheit, dass die Welt böse und der Mensch sündig ist. Verschiedene andere Lehren behaupten, man könne ein vollkommenes Leben erreichen, ohne das Böse wirklich überwunden zu haben. Das Christentum denkt nicht so, das Christentum verlangt einen wirklichen, geistigen Sieg über das Böse, eine geistige Wiedergeburt, es ist radikaler als andere Lehren und verlangt mehr.

Die negativste Seite des Christentums in der Geschichte war, dass viele und zu viele nur äußerliche christliche Zeichen und Etiketten getragen haben, ohne wirklich Christen zu sein. Es gibt nichts Ekelhafteres als Lügen, Heuchelei und Scheinheiligkeit. Das ist es, was den Protest und die Rebellion gegen sich selbst hervorgerufen hat. Der Staat nannte sich christlich und trug die Symbole und Zeichen des Christentums, dabei war er nicht wirklich christlich. Dasselbe gilt für das christliche Leben, für die christliche Wissenschaft und Kunst, für die christliche Wirtschaft und das christliche Recht, für die ganze christliche Kultur. Alles nannte sich christlich, doch dieser Name entsprach nicht der wirklichen Verwandlung und Erleuchtung. Das Christentum rechtfertigte sogar die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen im gesellschaftlichen Leben, schützte die Reichen und Mächtigen dieser Welt. Der alte heidnische Mensch, in dem es von sündigen Leidenschaften wimmelte, lebte in der christlichen Welt und war aufgerufen, sein Leben christlich zu gestalten. Die Kirche beeinflusste ihn innerlich, konnte aber seine alte sündige Natur nicht gewaltsam überwinden. Es ist ein innerer, intimer und unauffälliger Prozess. Das Reich Gottes kommt leise. In der Christenheit hatte sich viel Heuchelei und Falschheit, viel Konvention und Rhetorik angesammelt. Das konnte nur zur Rebellion gegen sich selbst führen. Die Rebellion gegen das Christentum und der Abfall vom Christentum ist oft nur der aufrichtige Wunsch, dass alles Äußere so sein soll wie das Innere. Wenn es kein inneres Christentum gibt, darf es auch kein äußeres Christentum geben. Wenn Staat, Gesellschaft und Kultur nicht innerlich christlich sind, gibt es keinen Grund, sie christlich zu nennen, keinen Grund, sich zu verstellen und zu lügen.

Dieser Protest hatte seine guten Seiten – Abscheu vor der Lüge, Liebe zur Wahrheit. Jedoch mit der Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit, mit dem Protest gegen Lüge und Heuchelei wurde eine neue Lüge, eine neue Heuchelei entdeckt. Mit der Begründung, dass die Menschen und die Gesellschaft nicht wirklich, wahrhaftig, angeblich, heuchlerisch und äußerlich christlich seien, begannen sie, das Christentum selbst für unwahr und falsch zu halten und das Böse der Menschen für das Böse des Christentums selbst. Und gleichzeitig begannen sie natürlich, sich selbst als höher stehend, vollkommener und mit einer wahreren Weltanschauung zu betrachten. Die Heuchelei der christlichen Heuchelei wurde durch die Heuchelei der antichristlichen Heuchelei ersetzt. Die Gegner des Christentums glauben, sie seien besser als die Christen, sie seien aufgeklärter und wüssten die Wahrheit besser. In Wirklichkeit sind sie Menschen, die von der Welt verführt wurden und die Wahrheit verleugnet haben, weil sie mehr von menschlichen Verzerrungen der Wahrheit als von der Wahrheit selbst beeinflusst wurden. Sie sind schlimmer als Christen, weil sie ihren Sinn für die Sünde verloren haben. Nietzsche war dem Christentum leidenschaftlich feindlich gesinnt, weil er nur entartete äußere Christen sah, aber das Christentum selbst sah und verstand er nicht.

Die christliche Welt befindet sich in einer Krise, die sie in ihren Grundfesten erschüttert. Das äußere, vorgetäuschte, falsche, rhetorische Christentum kann nicht mehr bestehen, es ist am Ende. Die Verbindung des Ritualismus mit der heidnischen Falschheit des Lebens ist nicht mehr möglich. Es kommt das Zeitalter des wahren Realismus, wenn die primären Wirklichkeiten des Lebens enthüllt werden und alle äußeren Schleier fallen, wenn die menschliche Seele direkt mit den Geheimnissen des Lebens und des Todes konfrontiert wird. Die Konventionen des äußeren Lebens, die politischen und staatlichen Formen, die konventionelle äußere Moral, die abstrakten ideologischen Theorien verlieren ihre frühere Bedeutung. Die menschliche Seele will in die Tiefen des Lebens selbst eindringen, will das Wesentliche und Notwendige erkennen, will in Wahrheit und Wahrhaftigkeit leben.

In unserer Zeit, unter dem Einfluss all der Erschütterungen, die wir erlebt haben, werden Seelen geboren, die vor allem die Wahrheit aufgedeckt und unverfälscht sehen wollen. Der Mensch ist der Lügen müde, der Konventionen, der äußeren Zeichen und Formen, die an die Stelle der Realitäten des Lebens getreten sind. Und die menschliche Seele möchte die Wahrheit des Christentums sehen, ohne die Vermittlung der Lügen, die die Christen in sie hineingetragen haben, sie möchte sich Christus selbst anschließen. Wegen der Christen wurde Christus vergessen, man hat aufgehört, Ihn zu sehen. Die christliche Erweckung wird in erster Linie eine Hinwendung zu Christus sein, zur Wahrheit Christi selbst, befreit von menschlichen Verzerrungen und Anpassungen. Das Bewußtsein der Unüberwindlichkeit der Erbsünde darf das Bewußtsein des Menschen von seiner Verantwortung für das Werk Christi in der Welt nicht schwächen und seine Energie im Dienst an dieser Sache nicht lähmen. Die Verwirklichung des Christentums, der Wahrheit Christi und der Bündnisse mit Christus erscheint den Menschen manchmal als eine unmögliche, hoffnungslose Aufgabe. Dabei lehrt uns das Christentum selbst, dass es nicht allein durch menschliche Anstrengung im Leben verwirklicht werden kann. Was für den Menschen unmöglich ist, ist für Gott möglich. Der an Christus Glaubende weiß, dass er nicht allein ist, dass Christus selbst bei ihm ist und dass er berufen ist, die Wahrheit Christi in seinem Leben gemeinsam mit Christus, seinem Erlöser, zu verwirklichen.

(Nikolai Berdjajew. übersetzt von Alexei)

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