Fast jeder hat schon einmal an seiner Wohnungstür oder auf der Straße Gruppen von Menschen getroffen, die die Zeitschrift “Der Wachturm” zusammen mit Büchern wie “Du kannst für immer im Paradies auf Erden leben” verteilen.
Das sind Leute von der Sekte der “Zeugen Jehovas”. Das Beispiel dieser obsessiven Sekte zeigt, wie leicht es ist, die Seele des Christentums zu töten, indem man sie uminterpretiert. Sie nennen sich Christen und erkennen das Neue Testament an, und sie leugnen die Dreifaltigkeit und glauben, dass Christus ein Prophet ist, nur kein Gott.
Ich werde ihre Argumentation jetzt nicht auseinandernehmen. Ich werde einfach versuchen, ihnen zuzustimmen und zuzugeben, dass Christus kein Gott ist. Christus ist ein Lehrer, ein Prophet, ein Prediger. Nur er ist kein Gott.
In deren Augen sehen Ihn sehr, sehr viele Menschen, die überhaupt nichts mit “Jehovas Zeugen” zu tun haben. Ich würde sogar sagen, dass es sich im Allgemeinen um eine übliche und natürliche Sichtweise handelt. Es erfordert eine Leistung des Glaubens, Gott in Christus zu erkennen. Und ihn als philosophierenden galiläischen Wanderer zu sehen, ist keine Anstrengung, keiner geistigen Sehkraft bedarf; eine solche Wahrnehmung ist ganz rational, gewöhnlich und selbstverständlich.
Können wir das Evangelium annehmen, wenn wir die Göttlichkeit Christi nicht anerkennen? Wenn wir das Evangelium mit den Augen eines Menschen lesen, der zwar religiös ist, dennoch nicht an die Dreifaltigkeit glaubt – was offenbart sich dann auf den Seiten der christlichen Schriften?
Wenn die “Zeugen Jehovas” Recht haben, gibt es keine abscheulichere Religion als die Religion des Evangeliums. Schließlich sagt das Christentum: “Gott ist Liebe”. Und es stellt sich heraus, dass derjenige, der auf Golgatha starb, gar kein Gott gewesen. Was wäre die Folge? Wenn Christus kein Gott war, dann ist der himmlische “Vater”, Den Jesus bittet, den Kelch des Leidens an ihm vorbeizutragen, nicht besser als Genosse Schdanow, der die Leningrader aufforderte, die Entbehrungen der Blockade tapfer zu ertragen und die Kürzung der Kartenzahlungen geduldig hinzunehmen – dennoch er selbst erlebte weder Kälte noch Hunger. Es ist ein seltsamer Gott, der verlangt, Liebe genannt zu werden, doch den höchsten Dienst der Liebe nicht annimmt, sondern ihn einem anderen anvertraut – Christus.
Wenn Gott selbst nicht auf Golgatha gelitten hat – warum und wofür sollten wir ihm beim Anblick von Marias gekreuzigtem Sohn danken? Der Gott des Alten Testaments sagt: “Ich will meine Herrlichkeit niemandem geben”. Hat er nicht selbst die Herrlichkeit eines anderen gestohlen? Hat er sich nicht die menschliche Dankbarkeit, die wir zum Grab des galiläischen Predigers hätten bringen sollen, zu eigen gemacht? Wem sollte ich mehr dankbar sein? Dem Kommandeur, der aus der Sicherheit seines Kommandos heraus die Militäroperation genehmigt hat, oder dem einzelnen Soldaten, der mich unter Einsatz seines Lebens aus den Händen der Terroristen gerettet hat?
Nach der Heiligen Schrift beweist Gott seine Liebe zu uns dadurch, dass Christus für uns gestorben ist (Röm. 5,8). Nun wenn Christus kein Gott ist, wie kann dann der Tod eines anderen die Liebe Gottes beweisen? Angenommen, Ivan, der auf der dritten Etage unseres Hauses wohnte, starb, um Alexej aus der ersten Etage zu retten. Beweist der Opfertod Ivans, dass Peter aus dem fünften Obergeschoss seine Liebe gezeigt hat?
Das Evangelium lehrt, dass es keine größere Liebe gibt als die, das eigene Leben für seinen Nächsten hinzugeben. Dennoch der Gott, der dieses Gebot gibt, tut nach Ansicht der Zeugen Jehovas etwas anderes. Er opfert nicht sein eigenes Leben für die Menschen, sondern das Leben der Menschen selbst: den besten der Menschen für die Vergebung der schlechtesten. Gott wäscht die Sünden der anderen Menschen durch ihr Leiden ab. In Anbetracht des Todes Christi beschließt Gott, seine zornige Haltung gegenüber den Menschen zu ändern. Das Blut Christi macht Seine Augen blind, so dass Er keine Ungerechtigkeit mehr sieht und alles vergibt. Gott vergießt das Blut eines anderen, um Seine Haltung gegenüber den Menschen zu ändern.
Wenn Christus kein Gott ist, sondern nur ein “Lehrer” oder ein “Prophet”, dann ist Jesus nichts weiter als ein Opfertier für Gott, dessen Blut die Menschen irgendwie vergießen müssen, um die Gunst des Einen zu erlangen, vor dessen Allsehendem Auge das Blut des Opferlammes vergossen wurde. Wenn Christus kein Gott ist, gibt es kein Buch auf der Welt, das den moralischen Sinn mehr beleidigt.
Die Menschen sündigten lange und geschmackvoll – und Gott war zornig auf sie. Schließlich taten die Menschen das Abscheulichste, was sie tun konnten – sie töteten den einzigen hellen Menschen auf Erden. Und als Reaktion auf dieses Verbrechen erklärten die Apostel Christi irgendwie, dass Gott, nachdem Christus getötet worden war, nicht mehr zornig auf die Menschen sei, dass unsere Sünden durch das Blut Jesu abgewaschen worden seien….
Für die Jehovisten ist Christus nichts weiter als ein Wesen, das für die Sünden der anderen leidet und von den beiden anderen Parteien benutzt wird, um ihr Verhältnis zueinander zu klären. Gott ist zornig auf die Menschen, weil sie seine Gebote übertreten haben. Die Menschen des Alten Testaments töten ein Tier – und Gott wird besänftigt. Es stellt sich heraus, dass Gott im Neuen Testament, um seine Haltung gegenüber den Menschen zu ändern, den Menschen erlauben muss, einen leibhaftigen Engel zu töten.
Der Gott der “Zeugen Jehovas” hat das Kreuz auf die Schultern der Schöpfung gelegt. Der Gott der Christen, die an die Dreifaltigkeit glauben, hat selbst das Kreuz auf seine eigenen Schultern genommen.
Wenn Christus für uns gestorben ist, wenn Christus jene Liebe gezeigt hat, die nicht größer sein kann, und wenn Christus kein Gott war, dann gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder muss der Christ, d.h. derjenige, der Christus wirklich geliebt hat, zum Atheisten werden: Er ehrt Christus, dessen Liebe er gesehen und erkannt hat, will trotzdem nichts von Gott wissen, der sich in seiner eigenen Liebe zu den Menschen in keiner Weise gezeigt hat. Oder er muss Gott gerade deshalb ehren, weil er zugelassen hat, dass der beste aller Menschen getötet wurde….
Wenn Christus für mich gestorben ist, warum sollte ich Gott dann dafür lieben? Wenn Christus kein Gott ist, warum sollte ich dann Gott danken? Christus hat uns vom Tod befreit, doch Gott hat Ihm nur die Erlaubnis gegeben, in Liebe zu handeln. Wir sollten nicht dem Vater danken, sondern allein Christus. Und wir werden durch das Geschöpf gerettet, nicht durch den Schöpfer. Nach der Logik der Zeugen Jehovas hat Christus also durch seine Tat das Wesen des Monotheismus in Frage gestellt. Er hat sich so sehr in das Gedächtnis der Menschen eingeprägt, dass Er Jehova in den Schatten gestellt hat. Und es ist nur natürlich, dass der Name Jehovas von den geretteten Menschen vergessen wurde. Gott konnte dies nicht übersehen. Warum also bot Er einen solchen Weg der Befreiung an, der die Menschen unweigerlich zur Verehrung eines Nicht-Gottes, d. h. zur Macht des Heidentums, führte? Gott war immer sehr darauf bedacht, dass Israel seine Helden und Lehrer (das Grab des Mose wurde vor dem Volk verborgen) und seine Heiligtümer (die Zerstörung der ehernen Schlange) nicht zu sehr ehrte. Und plötzlich – ein solcher Fehler….
Wenn “die Zeugen Jehovas” Recht haben, kann ich ihnen zu einer verblüffenden Entdeckung gratulieren: Es stellt sich heraus, dass einer der frühesten Atheisten der Welt … der Apostel Paulus war. Er war es, der einmal sagte: “Denn ich hielt es für richtig, unter euch nichts zu wissen als allein Jesus Christus, ihn, den Gekreuzigten.” (1. Korinther 2,2). Wenn Christus kein Gott ist, dann hat Paulus, der sagte, er wolle nichts und niemanden außer Christus kennen, auch erklärt, er wolle Gott nicht kennen. Christus überschattete den Himmel durch sein Kreuz. In diesem Fall hat Christus den Vater nicht offenbart, sondern Ihn hinter Sich selbst verborgen.
Wenn wir in Christus nicht das Geheimnis des Glaubens erkennen: Gott ist offenbart im Fleisch (vgl.1 Tim 3,16), dann erscheint die apostolische Verkündigung von Christus als raffinierte atheistische Propaganda. Schließlich predigen die Apostel, dass es in keinem andern ist das Heil (Apg. 4,12). Wenn Christus kein Gott ist, sondern nur ein “Gesandter”, ein “Lehrer”, nur ein Mensch, wenn der Sohn und der Vater nicht ein und derselbe sind, dann haben wir es mit der Verkündigung des Atheismus zu tun. Gott rettet nicht und wird nicht retten. Das Heil liegt allein in dem Menschen Jesus. Dabei sind die Apostel eindeutig keine Atheisten. Sie glauben an den Schöpfer. Und sie verstehen sehr gut, was kann der Mensch geben, womit er seine Seele auslöse? (siehe: Matthäus 16,26). Wenn das Heil in Gott ist und das Heil allein in Christus – dann können diese beiden Glaubensbekenntnisse nur durch die Trinitätslehre in Einklang gebracht werden.
Nur in einem Fall können wir die Erzählung des Neuen Testaments mit religiöser und moralischer Ehrfurcht betrachten: Wenn wir im müden Antlitz des Leidenden von Golgatha Den erkennen, Der einst selbst die ganze Schöpfung geschaffen hat.
Deshalb verlangt das Wesen der monotheistischen Religion, dass die Dreifaltigkeit anerkannt wird, dass der ewige Sohn, der wahre Gott, im gekreuzigten Christus anerkannt wird.
Und für die “Zeugen Jehovas” gilt derselbe Vorwurf, den schon im 4. Jahrhundert der heilige Gregor von Nyssa den Arianern machte, die ebenfalls die Göttlichkeit Christi leugneten: “Warum leugnest du die Dankbarkeit für unsere Erlösung gegenüber dem Vater, der die Befreiung der Menschen vom Tod durch seine Kraft, die Christus ist, vollbracht hat? [1]”.
Anmerkungen:
[1] Der heilige Gregor von Nyssa. Gegen Eunomius. 6,3. // Werke. Ч. 6. – М., 1863. С. 52.
Text: Diakon Andrej Kuraev Bilder: Zeitschrift “Zeugen Jehovas” Übersetzt: Alex